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7.11.2003 8:20 AM CET
Typologie der Spiegel

Jeder Spiegel, an dem ich vorbeikomme, ist im Prinzip ein Orakel. Ich frage ihn, und sei es aus den Augenwinkeln: „Sitzt die Frisur noch?“, „Kann ich so einen kurzen Rock mit meinen Fußballer-Knien überhaupt tragen?“, Ist der Riemen der Schultertasche proportional lang genug?“ Aber im Grunde und ehrlich gesagt laufen alle diese Fragen auf die eine, alles entscheidende hinaus: „Spieglein, Spieglein an der Wand! Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Es ist unglaublich, wie verschieden die Antworten an ein und demselben Tag ausfallen können, in derselben Aufmachung, in exakt derselben Stimmung der Fragerin.

Es gibt nämlich nette Spiegel und böse Spiegel. Der nette Spiegel empfängt mich mit einem Joey-haften: „How are YOU doin’...?“ und flirtet unverhohlen. Der böse Spiegel wartet die entscheidende Frage gar nicht erst ab, sondern brüllt sofort: „DU NICHT!!!“

Nette Spiegel fördern das Selbstbewusstein am stärksten, wenn man ihnen unvermutet begegnet. Nur mal kurz hinschielen, um den Sitz des Jackets zu prüfen. Und feststellen, dass der urlaubsfrische Teint viel länger gehalten hat als erwartet und auch bei weniger gutem Willen eine gewissen Ähnlichkeit zu Grace Kelley zu erkennen ist. Gut!

Böse Spiegel treiben sich bevorzugt in Umkleidekabinen von schicken Boutiquen herum, in denen man sich als Trägerin einer Konfektionsgröße jenseits der 34 ohnehin deplatziert fühlt. Man kann sie schon beim Betreten des Ladens leise kichern hören. Und dann knallen sie einem beim Umziehen jeden Geweberiss an den Oberschenkel um die Augen, deren leicht übermüdete Schatten sie in den Look einer 55jährigen Schlampe verwandeln. Am wirkungsvollsten treten natürlich auch sie überraschend auf. Nach dem Pinkeln beim Händewaschen nur mal kurz des Sitz des Kajals checken - und erbleichen. Was schlecht ist, weil dieser Spiegel einem ohnehin schon die Leichenblässe entgegenleuchtet, in der er lediglich die Pickel am Kinn betont hat.

Sowas will man natürlich gerne kontrollieren können. Der nächstliegende Einflussfaktor ist die Beleuchtung des Spiegels. Da ich mal für eine Lichtmacherei gearbeitet habe, fragte ich dort die Experten: Welche Belechtung garantiert einen guten Spiegelcharakter? Verblüffenderweise waren die Lichtplaner hilflos. Der klassische Artisten-Spiegel sei ideal - einfache matte Glühbirnen oben und an den Seiten. Mehr kam nicht.

So bleibt mir weiterhin ein Rätsel, warum der Spiegel auf dem Gästeklo im Haus meiner Eltern mich geradezu zärtlich küsst, während mich gestern bei einem Geschäftstermin ein Klospiegel mit einer Aggression angefallen hat, die mich fast zur Kopftuchträgerin gemacht hätte.