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22.12.2003 10:04 AM CET
Schwere Kette Heimat

Düstere Beschreibung einer trostlosen Erscheinung.

Meine Eltern wohnen in Sichtweite. Gestern habe ich sie besucht, bin an dem Gebäude vorbeigefahren. Und mir wurde wieder übel, so übel wie beim Lesen des Textes.

Ich weiß nicht so genau, was mir meine Heimatstadt so unverhältnismäßig verhasst macht. Allein der Gedanke an die Vergangenheit dort nimmt mir den Atem. Die Erinnerungen legen sich wie Tentakeln um meinen Hals und würgen mich, die Bilder, die Namen fühlen sich wie Kerkerketten an meinen Knöcheln an.

Diese Stadt wird mir immer der Inbegriff dessen sein, was mich hindert meine Flügel auszubreiten und abzuheben. Wird mein ganzes Leben das "schon immer" sein. Der Käfig, der nur mit extrem viel gutem Willen golden aussieht.

Barockfassaden versuchen sich dort als Sahnehäubchen auf den dominierenden Militärbauten aus vier Jahrhunderten. Erfolgreiche Industrieansiedlung hat zur richtigen Zeit enorme Geldsummen in die Stadtkasse gespült, so dass die Fußgängerzone zwar exakt so aussieht wie alle weiteren 387 Fußgängerzonen der Republik – dafür aber eine der ersten war.

Oder sind es doch die Menschen dort? Die ihre Scheuklappen so eng eingestellt haben, dass sie, wie gestern meine Schwägerin, bereits ein boshaftes Glitzern in den Augen bekommen, wenn sie auch nur mein ausgefallenes T-Shirt sehen?

Mein Bruder ist dorthin zurück gekehrt, hat alle Waffen gestreckt, ist Familie und Bausparer geworden. Ausgerechnet er, der sich zu Schulzeiten bereits öffentlich mit dem damaligen Vorsitzenden des Bayerischen Philologenverbandes anlegte. Jetzt legt er sich garantiert mit niemandem und nichts mehr an. Aber im Grunde ist er nur einer von vielen, die die Fahrkarte in die große weite Welt schon fest in der Hand zu haben schienen und sich dann doch von den Kerkerketten unten halten ließen.

Seit Jahren war ich in dieser Stadt nicht mehr an Plätzen oder zu Gelegenheiten unterwegs, die mich unter Leute gebacht hätten. Ich habe mich in den 21 Jahren vor Ort zu bekannt gemacht, als dass ich mich konsequent wegducken könnte. In Städten von dieser Größe ist es so einfach aufzufallen.

Der Sprössling im erwähnten Text ging wohl in der Unterstufe in meine Parallelklasse. Hat's dann aber doch nicht geschafft und wechselte die Schule. Ich habe keine Ahnung, warum ich das überhaupt WEISS! Diese Stadt und ihre Geschichten verfolgen mich unerbittlich.

Manchmal fürchte ich mich fast vor seinen Geschichten. Und ich kann einfach nicht verstehen, wie er den Fluch dieser Stadt so gut erfasst – und dennoch dagegen resistent zu sein scheint.


Kommentare: 6 Kommentare

Sie sprechen nicht zufällig von Augsburg?

Liebste Kaltmamsell,

man muss sich dem Alptraum stellen, um ihn bekämpfen zu können. Und das Schlimmste ist: Diese Städte sind in so vielen drin, die rauswollten.

Ich kann hier leben und woanders. Ich sehe überall die gleiche Leere, den Hass dieser Leute auf uns, wie der Hass des krummbeinigen Dorfköters auf den hochgezogenen Rassehund, um es Meyrink zu sagen. Es ist egal. Nebenan, wenn ich zum Fenster hinaus sehe, sind Kinder bei den Vorbereitungen zum Weihnachtsfest an einem Gymnasium, das sich was drauf einbildet. Aber als wahrer Libertin überlebt man es. Und geniesst diesen Hass.

Ich wäre beinah in meine Heimatstadt zurückgezogen. Und hätte es eine Verbesserung genannt.

Beat this.

Ach Kathleen, Augsburg ist tatsächlich am nächstschlimmsten.

Don Alphonso, in zweieinhalb Jahren jährt sich mein Abitur zum 20. Mal. Vielleicht schaffe ich dann eine echte Konfrontation mit den Geistern der Vergangenheit.

Ich bin gerade da und werde es auch noch etwas länger sein - wie wär´s mit einem Treffen über der Stadt?

Sehr schöne Beschreibung. Kann ich nachvollziehen. Ist zwar ne andere Stadt, aber solche Städte gibt es in Deutschland oft. Ich habe die erstbeste Gelegenheit genutzt und bin nach dem Abi nach Berlin gezogen. In den letzten 20 Jahren bin ich vielleicht 3-4 mal wieder dort. Aber innerlich abschließen kann man damit wohl nie.