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10.4.2004 10:02 AM CET
Die große Überfahrt
Zum ersten Mal war ich 1993 in New York. Bis dahin hatte ich mich für die Stadt so wenig interessiert, dass mich der Stadtplan mit der Tatsache überraschen konnte, dass Manhattan eine Insel ist. Doch ich verliebte mich über beide Ohren in New York. Abgesehen davon, dass ich die meisten Ecken bereits aus Filmen kannte und mich fühlte wie auf einem Set – die Stadt atmet Geschichte, Einwanderergeschichte. Auf einer Rundfahrt zu Ellis Island und Liberty Island wurde mir klar, dass es nur eine Möglichkeit gibt, stilvoll in New York anzukommen: auf einem Schiff. Ich hätte gar nichts dagegen gehabt, die Nostalgie auf die Spitze zu treiben und mit einem Frachtschiff zu fahren. Doch diese Schiffe haben sehr vage Abfahrtszeiten: Auf etwas Genaueres als einen Zeitraum von einer Woche legt sich kein Reeder oder Betreiber fest. Das wiederum lässt sich nicht mit der Urlaubsplanung einer Arbeitnehmerin vereinbaren. Das einzige Passagierschiff, das die Strecke Europa – New York im Linienbetrieb fuhr, war die Queen Elizabeth 2. Doch diese Luxus-Legende schien mir kleiner Arbeitertochter auf einem so entfernten Planeten zu liegen, dass es gerade mal für Träume reichte. Regelmäßig ließ ich mir von der Reederei Cunard (Angeberinnen betonen den Namen auf der zweiten Silbe) Prospekte schicken, in denen ich seufzend blätterte. Es brauchte dann schon einen Mann von der geistigen Größe meines Mitbewohners, um den Traum Realität werden zu lassen. Denn der sagte eines Tages: „Dann lass uns das doch machen.“ Es stellte sich heraus, dass wir für diese Reise nicht mal Haus und Hof verpfänden mussten: Der Flug von München nach London, Transfer nach Southampton, sechstägige Überfahrt in einer Mittelklasse-Kabine, drei Übernachtungen in New York und Flug zurück nach München kosteten zusammen 2.300 Euro pro Nase. Das machte die Reise durchaus zum bislang teuersten Urlaub meines Lebens, war aber zu verkraften. Ohne es zu wissen, hatten wir zudem eine der letzten Chancen zur Überfahrt mit der QE2 wahrgenommen: 2004 übernahm die neue und bombastische Queen Mary 2 die Transatlantik-Route für Cunard, die QE2 macht nur noch Kreuzfahrten.
Die Queen, wie wir sie also ab sofort nennen durften, hat Stil bis ins Detail: Die Tickets für die Reise wurden uns in Lederetuis zugeschickt, in die das Cunard-Wappen geprägt war.
Morgens gingen wir nicht in das uns zugewiesene Restaurant, sondern ins Lido zum Frühstücksbuffet. Wir waren diesem Tipp aus Reiseberichten gefolgt, weil man im Lido seinen Tisch frei wählt und sich so jeden Morgen eine andere Aussicht aufs Meer aussuchen kann. „Buffet“ ist allerdings irreführend. Am einen Ende der Buffet-Theke stand eine Angestellte und versorgte jeden einzelnen Passagier mit Tablett und Serviette. Am anderen Ende warteten Kellner, die den Gästen das beladene Tablett abnahmen und es über den etwas schwankenden Boden sicher an den Tisch brachten. Da diese Herren und Damen wie auch alles andere Personal jederzeit aufgeschlossen für einen Plausch waren, erfuhren wir mit der Zeit, dass auf der Queen besonders viele Polen arbeiten, dass die Angestellten ein eigenes Freideck und eine eigene Disco haben und dass jeder zu Anfang erst mal ordentlich Muskelkater in den Waden bekommt – vom Ausgleichen des Seegangs beim Bedienen. Essen gab es ohne Ende, inklusive nachmittäglichem Tee und Mitternachtsbuffet fünfmal am Tag; dazwischen konnte man sich jederzeit einen Keks oder ein Stück Obst holen. Wir haben es nur an einem Tag geschafft, alle fünf Mahlzeiten mitzunehmen – und das auch nur durch die eiserne Regel, uns immer nur am Feinsten zu bedienen. Ich habe für diese Opulenz bei Transatlantik-Fahrten übrigens den wahren historischen Grund gefunden: Das Apfel-Trauma der allerersten großen Überfahrt.
Jeden Tag gab es unzählige Programmpunkte, die uns morgens zusammengefasst in der Bord-Zeitschrift unter der Kabinentür durchgeschoben wurden. Mein Begleiter nutzte die Gelegenheit Bridge zu lernen: vormittags Unterricht, nachmittags üben. Ich befasste mich mit dem Schiff (Führungen) und der Geschichte der Ocean Liner (Dia-Vorträge). Übrigens mögen wir Überfahrer es gar nicht, wenn uns eine „Kreuzfahrt“ unterstellt wird. Wo es doch schon mal massive Unterschiede zwischen einem Ocean Liner und einem Cruise Liner gibt.
Viel Zeit verbrachten wir im Queens Room. Jeden Mittag gab es dort eine Stunde Unterricht in Standard-Tänzen, den wir ab und zu mitmachten. Davor oder danach konnte man sich an Tanzstunden mitreisender Broadway-Tänzer beteiligen (die sich problemlos auf den hohen Altersdurchschnitt und die Unsportlichkeit der Passagiere einstellten). Hier gab es auch den High Tea – schließlich fuhren wir unter britischer Fahne. Zu dieser Teestunde servierte das Personal in weißen Handschuhen Küchelchen, Törtchen und Mini-Sandwichs.
Wo ich ging und stand lernte ich Leute kennen. Sobald ich mich irgendwo dazu setzte, wurde ich in ein höfliches Gespräch gezogen. Einstiegsfrage: „Is this your first time on the Queen?“ Ich war erstaunt, wie viele Passagiere diese Überfahrt regelmäßig machten. Täglich um 12 Uhr gab der Erste Offizier über Lautsprecher die aktuellen Koordinaten des Schiffes durch, bereitete die Passagiere auf das Wetter vor, informierte über Besonderheiten. Dazu gehörte auch, dass wir einmal in einen ausgewachsenen Sturm kamen. In der Ankündigung des Ersten Offiziers hieß das: „This evening might become quite interesting.“ Kurz darauf wurden wir mit einem Flugblatt aufgefordert, in unserer Kabine lose Gegenstände zu verräumen. Schon bald konnten wir sehr leicht feststellen, welche Gegenstände wir dabei vergessen hatten: Sie flogen uns in der Kabine buchstäblich um die Ohren. Aus unserem Bullauge sahen wir vor lauter Wellen nichts mehr. Wir schalteten unseren Fernseher auf den Kanal, der die Bilder der Kamera an der Schiffsbrücke übertrug. Nicht nur bekamen wir dadurch einen Eindruck von der Höhe der Wellen – ich bildete mir auch ein, damit meine erstmals aufkommende leichte Seekrankheit zu bekämpfen. Die Übelkeit blieb erträglich, nahm mir aber den Appetit aufs Abendbrot. Ich legte mich ins Bett; Schlaf war allerdings unmöglich, da ich mit Festhalten beschäftigt war – diese Betten haben empörenderweise keine Sicherheitsgurte.
Die Einfahrt in New York war genau so grandios wie ich sie mir vorgestellt hatte. Im Morgengrauen stand ich zwischen anderen Frühaufstehern frierend an Deck und sah erst die Umrisse von Queens, dann Verrazano Bridge, bevor die Kulisse von Manhattan auftauchte, beschienen von der aufgehenden Sonne. Liberty Island, Ellis Island, dann nach Norden zur Anlegestelle. Durch das Reisen mit der Zeit hatten wir natürlich keinerlei Jet Lag. Schwierigkeiten bereitete dafür die Umstellung auf festen Boden. Aber davon erzähle ich morgen.
Kommentare: 15 Kommentare wie schön. danke!
"This evening might become quite interesting." Wunderbar ;)
Da klopfte ein Herz beim Lesen. Schönen Dank dafür.
langsamer zu reisen, als man das normalerweise tut, ist sehr schön. kann da nicht so ganz mitreden, was fliegen und ozeanfahrten angeht, aber allein schon rad und fuß im vergleich zur bahn sind was wert ...
Bin schon gespannt auf Morgen.
nice!
„uncool paradise“; das besondere an den engländern ist ja, dass die ihre uncoolness irre stilvoll und - nun ja - cool durchziehen. der part mit dem doppelbett hat das zeug zur methapher für guten service zu werden. etwas mit dem man das gegenteil von „draussen gibts nur kännchen“ ausdrücken könnte: „wünsche von der kabine ablesen“ - oder so.
Ha, ich bin eima mitte Fähre zu den kanarischen Inseln. Ich kann nicht gut Schiff fahren. Die Fahrt war die Hölle. In schwere See geraten, alles übel. Ich hätte nie gedacht, daß so große Schiffe wackeln. Jedes Boot wackelt, selbst bei 1 Meter Dünung schon, glaubich.
Danke! Danke! (wischt sich eine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel) Ich fühle mich verstanden! In der Offline-Welt schlug mir letztes Jahr komplettes Unverständnis entgegen, als ich meine Reise ankündigte - außer von meinem Friseur.
Bislang war es so eine vage Idee, diese Überfahrt mal zu machen. Jetzt habe ich Gänsehaut und die Gewissheit. Ich werde es tun. Danke.
Hach, schön. Ich fühle mich, als würde ich neben Ihnen an Bord flanieren. Ich muss jetzt erstmal einen Tee trinken und ein Gurkensandwich verzehren.
Ein köstlicher Bericht, sehr verführerisch...
WOW, diese Seite ... echt stark und schön geschrieben. Ich spiele auch immer wieder mit dem Gedanken mit einem Schiff durch die Meere zu fahren und kenne die Frachteridee auch. Realisiert habe ich aber noch nichts. Freuete mich deshalb umso mehr, diesen gut geschriebenen Bericht zu lesen. Deine Überfahrt sah ich gerade nicht mehr einlaufen, weil ich da schon von New York auf dem Weg nach Hause war. Von meiner Wohnung in New Jersey hatte ich ein Jahr lang gute Kontrolle über alles was den Hudson rauf und runter fuhr. Die Queen war auch im wieder dabei. Tolle Seite! weiter so!
danke mamsell. schöne geschichte !mich schrecken an meiner new york lust immer die langen flugstunden ab, der seeweg wird irgendwann wohl auch meine erste wahl sein.
Ein wunderschöner Bericht. Macht Lust auf Meer und mehr. Auf meine Bloggroll!
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