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16.6.2004 8:53 AM CET
Geschichte

Eben habe ich die Lebenserinnerungen der Sara Tuvel Bernstein (Die Näherin) gelesen. Wieder eine fremde Frau, Altersgenossin meiner Großmutter, über die ich erheblich mehr weiß als über meine beiden eigenen Großmütter.

Meine polnische Oma hat, ebenso wie Sara Tuvel in Bukarest, in der Nähe von Krakau eine Schneiderinnenlehre begonnen. Irgendwann hat man mir erzählt, dass sie diese noch nicht abgeschlossen hatte, als die Deutschen sie zur Feldarbeit nach Schwaben verschleppten. Mehr weiß ich nicht. Nicht wie sie zu dieser Lehrstelle überhaupt gekommen ist, ob sie Lehrgeld zahlen musste, wessen Idee die Lehre überhaupt gewesen war.

Ich habe gelesen, wie Sara Tuvel in ungarischen Arbeitslagern und im Konzentrationslager Ravensbrück ihre Schwestern beschützt hat, welche Überlebensstrategien sie anwandte. Von meiner Großmutter Kazimiera weiß ich nicht mal, unter welchen Umständen sie und ihre ältere Schwester Irena überhaupt zur Zwangsarbeit ausgewählt wurden.

Doch, das würde mich alles sehr interessieren. Und meine Großmutter lebt sogar noch. Aber um Details über ihre Vergangenheit herauszufinden, müsste ich mit dieser widerlichen Frau sprechen. Beim Gedanken daran schüttelt es mich. Ich müsste mich ihren nassen Küssen aussetzen, ihrer Quäkstimme, in der sie nahezu unverständlich schlechtes Deutsch spricht, ihrer bodenlosen Dummheit, ihrem Selbstmitleid, ihrer Weinerlichkeit, ihrem Gejammer über Wehwehchen („Tut’de de Kupf so wëi!“ „De Fieße! Kun i ned laufe!“), ihrer keckernden Jovialität, ihren neckischen Klapsen auf meinen Po. Aber wer weiß, wie lange sie noch lebt und erzählen kann? Da sie praktisch nicht lesen und schreiben kann, gibt es von ihr selbst sicher keine Aufzeichnungen. Erzählt hat sie auch nie viel, sie ist einfach zu dumm zum Geschichtenerzählen. Sie kapiert ja nicht mal einfachste Fernsehsendungen.

Einer anderen Oma könnte ich ein Aufnahmegerät oder Diktiergerät geben und sie bitten, einfach ihre Erinnerungen draufzusprechen. Die Intelligenz meiner Oma reicht gerade mal (knapp!) zum Bedienen eines Gasofens, einer mechanischen Nähmaschine und eines Handrührgeräts. Außerdem wüsste sie ohne konkrete Fragen nicht, was sie erzählen soll.

Ich müsste also mit einem Aufnahmegerät zu ihr gehen und sie ausfragen. Wenn ich mich nicht bald aufraffe, werde ich es bereuen. Könnte ich nicht mit jemandem tauschen? Ich interviewe deine blöde Oma, dafür interviewst du meine?


Kommentare: 4 Kommentare

Da wäre ich sofort dabei, Sie müssten allerdings meinen Vater interviewen. Mir fiel die vergangenen Tage auf, daß ich eigentlich gar nicht von ihm weiß.

Dieses Thema zieht sich momentan wie ein roter Faden durch fast meinen gesamten Bekanntenkreis.
Einer meiner Freunde hat seinen 80-jährigen Schwiegervater vor eine Kamera gesetzt und seine (Kriegs-)Erlebnisse erzählen lassen - bei seinen Eltern traut er sich das nicht, weil immer wieder allzu große Emotionen bei ihnen hochkommen.Sie sind etwas jünger und haben den Krieg in einem sehr sensiblen Kindes- bis Jugendalter erlebt und bisher all das wohl gut verdrängt.
Meine eigene Mutter (Jahrgang 1929)
stammt aus einem kleinen Dorf an der Oder.Sie ist gerade dabei, zusammen mit anderen Dorfbewohnern, zu denen sie einen erstaunlich guten Kontakt hält, die Zeit ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend zu rekonstruieren.Sie führt dabei teilweise stundenlange Telefonate, zeichnet Pläne, versucht Adressen herauszubekommen und ist hinterher immer völlig aufgelöst. Obwohl sie nie verdrängte, sondern ganz im Gegenteil immer sehr offen ihre Erlebnisse zu verarbeiten versuchte, wird auch sie immer wieder von Gefühlen der Angst überschwemmt.
"Ich erlebe momentan alles noch einmal", sagt sie in letzter Zeit häufiger und muss dann immer eine Blutdrucktablette mehr einnehmen.

In Altenheimen erlebe ich es manchmal, dass Menschen kurz vor ihrem Tod in eine beängstigende Kindheitserinnerung eintauchen, verzweifelt und panisch nach ihrer Mutter rufen, nicht mehr zu beruhigen sind.

In dieser Generation schlummern unter der Oberfläche sehr viele, z.t. sehr grausame Geschichten.
Geschichten die für uns ebenso unvorstellbar wie wichtig sind, denn sie haben, gerade wenn sie lange Zeit aus der Verdrängung heraus wirken konnten, unsere individuelle Entwicklung mitbestimmt.

Das ist wirklich ein ganz wichtiges und spannendes Thema.

Kann leider keine Oma mehr anbieten. Aber du solltest es wirklich tun, ausfragen meine ich.

Ich hab in Ermangelung lebender Großeltern grad damit begonnen, mir unsere Familiengeschichte von meinen Eltern erzählen zu lassen.
Deine Großmutter würde ich übrigens auch "übernehmen". Fremde Familienmitglieder sind selten so anstrengend wie eigene.