Prüfung in Körpertoleranz
Mittwoch, 10. Oktober 2012 um 13:58Oy, ist der Turnraum heute voll. Bleiben wohl bloß die Plätze zwei Meter vor dem Spiegel, dann baue ich meinen Step halt hier auf. Huch, wer macht denn da heute Vertretung für Vorturnerin Angelika? Ein Skelett-Exponat aus der nahen Anatomie mit blondem Pferdeschwanz? Die Verdürrung ist so fortgeschritten, dass man ihre Halswirbel von vorne zählen kann und ihre Wangen bereits mit Flaum bewachsen sind. Noch dazu ist sie wohl so stolz auf ihr Äußeres, dass sie nur Shorts und ein Träger-Shirtlein zu ihren Aerobicschuhen trägt.
Holla, die springt ja schon beim Warm-up mit einem Bewegungsradius um ihr Brett, als müsse sie die Kalorien dreier Schachteln Pralinen wegturnen. Das zugehörige irre Strahlen im Gesicht lässt den Totenschädel-ähnlichen Kopf nur noch mehr wie eine Geisterbahn-Requisite aussehen.
Spätestens jetzt gehen meine inneren Alarmschilder hoch, die man wohl Gewissen nennt. Was alles unterstelle ich dieser Frau eigentlich gerade? Dieser Frau, von der ich nicht mehr weiß, als dass sie sportlich ist und sehr, sehr dünn. Die ich in einer Rolle antreffen, in der ich von ihr nichts anderes und nicht mehr zu erwarten habe, als dass ihre Choreographie und der Stundenaufbau gut sind.
Don’t make assumptions – fordern Dickenaktivistinnen völlig zurecht: Zieht keine voreiligen Schlüsse aus unserem Aussehen! Ihr kennt nur unser Dicksein, aber weder unseren Charakter noch unsere Fitness noch unseren Lebenswandel. Nein, führt die sehr lesenswerte Bloggerin Fat Nutritionist zum Beispiel aus, Dicksein umfasst nicht automatisch die Neigung zu Fressattacken. Die Parallele lautet bei meinem Erlebnis: Und Dürrsein umfasst nicht automatisch Verhungern.
In einem anderen Zusammenhang schreibt Fat Nutritionist:
Weight is not an indicator of human worth. Weight is also not a behaviour; you cannot accurately assume behaviours or health status based on appearance.
Healthy people come in all shapes and sizes.
(…)
Our bodies and the status of our health are not public property. Our existence is not open to debate or discussion.
Was Dicke einfordern, ist selbstverständlich auch das Recht der Dürren. Doch leider, wie ich an meinem Erlebnis gemerkt habe, fällt es mir so viel schwerer, es den Dürren zuzugestehen.
Dass mir als 16-Jähriger eine enge Freundin fast weggestorben ist an Anorexie, hat mich mehr geprägt, als mir lieb ist. Es war meine erste Begegnung mit Todeskrankheit eines nahen Menschen und gleichzeitig mit Essstörung. Bis heute reagiere ich extrem emotional auf einen bestimmten Grad von Magerkeit. Dummerweise löst dieser Trigger bei mir Aggression aus, nicht Mitleid. Diesen Impuls werde ich mir sehr wahrscheinlich nie wegerziehen, diese Welle heißen Zorns beim Anblick eines stark untergewichtigen Knochengerüsts.
Vielleicht sollte ich also auch weniger streng ins Gericht gehen mit den Menschen, bei denen der Anblick stark übergewichtiger Fettberge diesen Zorn auslöst?
30 Kommentare zu „Prüfung in Körpertoleranz“
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10. Oktober 2012 um 15:18
Wie fühle ich mich selbst mit meinem Körper, war die Frage, die ich mir ganz allein beantworten lernen musste. Für mich ist die Diskussion, zu dick zu sein, abnehmen zu müssen, wie ein Blick in eine Falschherumwelt: Mir wurde immer vermittelt, ich sei zu dünn und müsse zunehmen, mein Körper wollte das aber nicht (ich kam halt nach meinem recht schlanken Vater und nicht nach all den fülligen Frauen in der Familie – allein unter Rubensfiguren!). Dafür schämte ich mich und trug bis ins junge Erwachsenenleben eher weite Kleidung, bis ich irgendwann dachte, warum wollen mir ständig Leute von außen einreden, wie mein Körper zu sein hat? Ihn gut zu kennen, ihn zu schätzen, die Freuden, ich durch ihn erlebe, ihn pfleglich zu behandeln und zu erkennen, mein Körper bin ja ich, das war auch eine Art Bewusstseinserweiterung.
Eine verzerrte Körperwahrnehmung wieder zu richten, wie bei einer Essstörung, ist – glaube ich – ungeheuer schwierig. Es beschäftigt mich aber, seit meine Cousine an Magersucht gestorben ist. Ihre Reaktion auf SEHR magere Menschen kann ich gut nachvollziehen.
10. Oktober 2012 um 15:59
Gerne gelesen! Zur Frage am Schluss: “dieser Zorn” klingt, als hätten alle Menschen, die Körper be- bzw. verurteilen, denselben Zorn (und denn auch dieselben Gründe dafür). Aber während ich Ihre Reflektion über den eigenen Aggressionsimpuls sehr gut nachvollziehen kann, ist meiner Erfahrung nach bei vielen Menschen ein blinder Körperhass am Start, dem ich einfach nicht nachsichtig begegnen will.
10. Oktober 2012 um 16:35
Ich werde zornig, wenn mich jemand pathologisieren möchte: denn gerade wenn ich sehr dünn bin und das meinetwegen auch ungesund sein mag, so kenne ich genug andere ungesunde Lebensstile, die eben nicht sichtbar sind, oder sozial akzeptabel. Die Linie zwischen “zu dünn, Du musst aber aufpassen” und “zu dick, also so würde ich ja nicht rumlaufen” ist extrem schmal und hat oft nur etwas mit der Form des Körpers zu tun. Wir alle versuchen, irgendwelche Copingstrategien anzuwenden und allein das ist manchmal schwer genug…
10. Oktober 2012 um 16:42
Meine sehr schlanke Schwester wurde mit einer großen Keksdose unter dem Arm mal von einer Frau auf der Straße angepampt: “Und danach wieder den Finger in den Hals stecken, ne?”.
10. Oktober 2012 um 17:00
So wahr und sehr gut beschrieben. Kann das gut nachfühlen und man muss sich selber immer zurückpfeifen.
Ich fordere das ja auch von meinen Mitmenschen ein, also muss ich das auch selber machen. Finde es aber schon einen Schritt in die richtige Richtung, wenn man sich der eigenen (falschen) Gedanken bewusst ist und das auch hinterfragt.
lg emmi
10. Oktober 2012 um 18:02
Jepp: bin das – als “Dünne” verdammt leid, insbesondere das Nichtbewusstsein dass das genau das gleiche in umgedreht ist wie bei Dicken.
Die “Unterstellungen” gehen von “du machst ja sicher dauernd Diät, isst nicht genug, nur kalorienarmes, betreibst sicher exzessiv Sport, bist magersüchtig, nicht gesund, nicht “normal”, bis hin zu “bist keine richtige Frau”! Und ich habe die Schnauze voll immer das Gegenteil zu beteuern (esse ganz normal, alles was kommt und davon viel und mit Genuss), oder herablassend behandelt zu werden (Tenor “welch Luxusproblem”) wenn ich erzähle , dass ich es nicht lustig finde nur Kinderkleider oder H+M in meiner Grösse zu finden – und das mit 47.
Ich wehre mich gegen Mitleid und Wut, die sich auf mich richtet ebenso wie gegen falsche Schlussfolgerung (oft von Ärzten!) ich sei ja wohl sehr sportlich “so dünn wie ich sei” (sic!) – falsch: klettern schlägt nicht auf die Taille sondern auf den Bizeps und die Waden.
lG
antje
10. Oktober 2012 um 19:32
Da sprechen Sie wirklich ein heikles Thema an. Auch ich habe mich schon bei solchen Gedanken ertappt und mich dafür geschämt.
Aber ich muss leider auch sagen, dass das Vorurteil oft die Mutter des Urteils ist: die extrem dünnen Frauen (nur von denen spreche ich hier), die ich kenne, sind aus gutem Grund extrem dünn: sie essen so gut wie nichts. Ich gehe regelmäßig mit solchen Frauen Mittagessen und bin immer wieder irritiert, wie wenig sie zu sich nehmen und das wenige ist auch noch sehr kalorienbewusst gewählt. Ich nehme ihnen auch nicht ab, dass sie nach 4 Stück Ravioli (kein Scherz!) “total satt” sind. Zorn kommt meinerseits auf, wenn diese Frauen dann auch noch jammern, dass sie einen “voll dicken Bauch” haben. Kurz: möglicherweise liegen Sie mit Ihrer Einschätzung der Vorturnerin vollkommen richtig.
Aber welche Konsequenz zieht man daraus? Ich versuche die Figur und das Essverhalten anderer schlichtweg zu ignorieren und lasse mich auch auf Diskussionen über “gesunde Ernährung” “Bikinifigur” blabla nicht mehr ein, insbesondere nicht beim Essen. Allerdings erwarte ich dann von meinen extrem schlanken Begleiterinnen auch, dass sie nicht angewidert und mitleidig auf meinen gut gefüllten Teller und mein Dessert gucken.
10. Oktober 2012 um 20:24
Protest. Nicht nur gesunde dünne oder dicke Menschen müssen sich nicht rechtfertigen.
Auch kranke dicke oder dünne Menschen dürfen sich großzügig eins drauf husten, was andere so über sie denken.
People come in all shapes and sizes. Healthy oder nicht.
Vielfalt fragt nicht um Erlaubnis. Wieso tun andere Leute so, als wäre jeder Körper, jedes Leben beliebig formbares Wachs und man müsse es nur wollen, um sich erfolgreich in ein Standardmodell zu pressen? Und warum soll man das eigentlich immer wollen?
10. Oktober 2012 um 21:06
Ich kenne diesen Aggressionsreflex ebenfalls. Da ich immer sehr schlank war und bin (von Opa/Mutter geerbt nicht erhungert), passiert das bei mir völlig unbekannten, sehr dicken Menschen, denen ich z.B. beim Flanieren durch die Stadt begegne. Diese sehr Dicken haben “alle” (Achtung subjektiver Wahrnehmungsfilter!) entweder ein ebenfalls sehr dickes Eis in der Hand, einen riesigen Fastfoodburger o.ä. Fettiges in der Hand, was gierig verzehrt wird. Mein sehr gemeines Ich denkt dann leider: kann doch nicht wahr sein, so fett und dann stopft der/die sich auch noch dieses Zeug rein.
Was mich auch umtreibt sind Einkaufssituationen (Lebensmittel) wo Mutter und/oder Vater sehr beleibt sind, die anwesenden Kleinkinder ebenfalls und auf dem Kassenlaufband stapeln sich ausschließlich Lebensmittel, die alle eines gemeinsam haben: wenig bis gar nicht nahrhaft, billig, sehr süß, sehr fettig, sehr salzig.
Wahrscheinlich bringe ich wiederum meine Mitmenschen auf die Palme, wenn sie mich mit 1 Joghurt (natur), 1 Paprika (rot) und 2 Äpfeln im Supermarkt sehen :)
Dass ich ein “ich brauch noch schnell-Einzelteile-Einkäufer” bin und zu Hause schon der sahnige, käsige Nudelauflauf im Ofen schmort, weiß ja keiner. Und nach dieser Logik müßte die o.g. Familie wahrscheinlich zu Hause auch einen riesigen Vorrat frisches Obst und Gemüse haben und kauft jetzt einfach “nur” noch das Freizeitessen ein.
Der Beissreflex verschwindet übrigens sofort und fast ganz, sobald ich zu den betreffenden einen persönlichen Kontakt habe und sei dieser noch noch so kurz oder oberflächlich. Bei guten Bekannten oder Freunden ist das überhaupt nicht vorhanden, das ist das Thema “Figur” überhaupt nicht relevant.
Was ist daraus zu lernen: den Menschen menschlich(er) begegnen.
*note to myself*
10. Oktober 2012 um 21:49
Helena: Ich glaube nicht, dass du deine Mitmenschen auf die Palme bringst. Ich kann mir nämlich beim besten Willen niemanden vorstellen, der auf die Einkäufe irgendwelcher Leute achtet, um dann zu vergleichen, ob diese “angemessen” sind.
So wichtig ist es sicherlich nicht, mal abgesehen davon, dass es ohnehin niemanden etwas angeht, was du isst und was du kaufst.
10. Oktober 2012 um 22:44
Ich habe zufällig gerade vor ein paar Tagen an eine Tante von mir gedacht, die an Magersucht gestorben ist. Sie ist immerhin knapp sechzig geworden, sah aber auch ziemlich dünn aus.
Ich kenne auch ein paar Leute, die einfach so ziemlich dünn sind. Bei der einen weiß ich, dass sie nicht magersüchtig ist, bei der anderen gehe ich einfach mal so davon aus. (Ich möchte ja auch nicht Annahmen über Menschen machen, die ich nicht gut kenne.) Und unter früheren Bekannten, mit denen ich den Kontakt verloren habe, fallen mir jetzt auch zwei ein, die einfach von Natur aus dünn sind (ich kannte sie ganz gut, und ich hatte nicht den Eindruck.)
Ich weiß jetzt nicht, ob man als Außenstehende und vor allem als medizinische Laiin sehen kann, ob ein Mensch einfach so dünn ist, oder ob da Magersucht dahintersteckt (und vor allem nicht in den Anfangsstadien… Ich kannte mal ein Vierzehnjährige, bei der die Ärzte schon aufmerksam geworden waren, der ich nichts angesehen hätte, wenn ich es nicht gewusst hätte.) Meine Tante wirkte vorzeitig gealtert, bei den Menschen, die einfach so dünn waren, verhielt es sich nicht so. Und ganz gewiss sahen sie nicht aus, als hätte jemand aus der Anatomiesammlung ein Skelett geklaut, und wenn sie lächelten, wirkte es nicht wie das Grinsen eines Totenschädels.
Habe jetzt auch die Kommentare gelesen, und habe auch eine Geschichte zu erzählen. In Hannover läuft zur Zeit ein Violinwettbewerb, und in den Pausen kommt man durchaus auch mit unbekannten Menschen ins Gespräch. Mit einer unbekannten Frau habe ich mich über eine der Geigerinnen unterhalten, die etwas runder ist, als es dem gängigen Schönheitsideal entspricht. “So ein unvorteilhaftes Kleid!” sagte sie. “Und dann auch noch mit Schärpe! Und kein bodenlanger Rock, so dass es unmöglich aussieht, wenn sie beim Geigen breitbeinig dasteht!”
Ich merkte dabei, dass ich mich in einer Filterbubble bewege unter Frauen, die solche Bemerkungen über das Aussehen anderer Frauen unmöglich finden.
11. Oktober 2012 um 9:40
Oh, die Sache mit der Toleranz – wenn das nur immer so einfach wäre.
Ich werde beispielsweise sehr zornig, wenn dicke Kinder regelrecht durch falsche Ernährung und fehlende Bewegung herangezüchtet werden. Aus diesem Muster nämlich später rauszukommen und ein gesundes Verhältnis zu Essen und zu Bewegung zu bekommen, ist schwer. – Ich war auch ein dickes Kind.
11. Oktober 2012 um 9:46
Man kann das innere Lästern – egal in welche Richtung – abstellen. Es dauert eine Weile, und es ist nicht ganz einfach, aber es lohnt sich (Anke hat das ja in ihrem Buch auch geschrieben). Wenn man sich nämlich klarmacht, dass einen die Körper, Gesundheit und Essgewohnheiten anderer Leute schlicht und einfach nichts angehen, ist man auch zu sich selber viel netter.
11. Oktober 2012 um 10:24
@melody: danke, das meinte ich. Ich finde, es ist schwer genug mit der einen oder anderen Sache in der Nachmoderne klarzukommen und sich dem normativen Druck zu stellen. Wie ich damit cope, ist zunächst meine Sache. Ob die Leute Extremsport machen, zu Hause flaschenweise teuren Rotwein trinken, Koksen oder eben manchmal über Essen kompensieren geht erstmal keinen was an.
11. Oktober 2012 um 11:43
Einerseits bin ich der Meinung, ich sollte meine Nase nicht in anderleuts Lebensstil/Essgewohnheiten/Körperformen stecken. Andererseits kann ich mir manchmal böse Gedanken in Richtung extrem dünner Frauen nicht verkneifen. Gesellschaftlich ist Dünnsein meiner Beobachtung nach immer noch eher akzeptiert als Dicksein.
@Helga: Ihren Gedankengang kann ich verstehen. Mir fällt aber auf, dass heutzutage dicke Kinder eher in finanziell und in puncto Bildung weniger begünstigten Schichten aufzuwachsen scheinen. Wem soll man da die Schuld geben? Da kommen wohl diverse Faktoren zusammen, auf die Eltern und Kinder nicht immer Einfluss haben. Ein ganz primitives Beispiel: Weißbrot ist meist billiger als Vollkornbrot. Was kauft man also, wenn Hartz IV an allen Ecken und Enden nicht reicht?
11. Oktober 2012 um 11:48
@Helga: Entschuldigung, ich sollte und wollte Sie eigentlich siezen. (Alte Duz-Gewohnheit aus Anarcho-Blogs). Editieren hat irgendwie nicht geklappt. Mea maxima culpa.
11. Oktober 2012 um 13:29
Ich kenne das auch. Bei “Dicken” fühle ich manchmal Mitleid, denn da kann ich das- bei ihnen fühle ich mich schlank. Bei “Dünnen” kommt mir schnell etwas Verächtliches ins Gefühl- da hilft kein Mitleid, denn bei ihnen fühle ich mich dick und muss das Dünne heruntermachen, um mich besser zu fühlen. Das alles geschieht nicht nach außen, sondern in meiner Gefühlswelt und strengt mich unglaublich an.
Ich bin nämlich sowas von normal (und immer wieder mal sowas von unzufrieden damit). Es ist unglaublich und manchmal wünschte ich, ich könnte diesen Teil aus meinem Kopf operativ entfernen lassen. Umdenken funktioniert so schlecht. Hat jemand ein Wundermittel?
11. Oktober 2012 um 14:22
Gesunder Menschenverstand reicht nicht?
Klar ist es anstrengend, sich selbst anzulügen. Der richtige Platz, um ein Problem mit dir selbst zu lösen, ist nämlich bei dir und nicht bei den anderen. Egal wie dick die anderen sind, du bist immer noch “zu normal”. Egal wie dünn die anderen sind, du bist immer noch “zu normal” und findest dich selbst nicht so toll und es ist anstrengend mit dir und du krampft rum auf der Suche nach Möglichkeiten, dich besser zu fühlen.
Gekünsteltes Mitleid, Arroganz und Verachtung sind keine Werkzeuge, die dich voran bringen (die machen nur auf Dauer einen Kackfressen-Gesichtsausdruck).
Was hilft es dir denn, darüber nachzudenken, wie andere sind, wenn du das Problem bist, das Problem hast und das Problem bei dir selbst lösen musst?
11. Oktober 2012 um 15:32
Mir ist das alles noch einmal durch den Kopf gegangen, und auch die generelle hier herrschende Forderung, über das Eßverhalten anderer Menschen nicht nachzudenken, besonders wenn man sie wenig kennt und nicht weiß, was dahintersteckt. Das ist generell auch zu begrüßen, ich glaube aber, dass es Ausnahmen gibt, und eine Fitnesstrainerin ist möglicherweise eine solche. Wenn es nicht die Vertretung ist, sondern die ständige Fitnesstrainerin, die einer als Teilnehmerin ein Ideal vorführt, das man weder erfüllen kann noch will, dann schwindet doch mit der Zeit auch das Vertrauen, ob sie wirklich Unterstützung bieten kann, wenn es darum geht, sich gesund zu bewegen und zu ernähren. Zum Beispiel würde ich erwarten, dass eine Trainerin auch zu Pausen ermutigt, und auffordert, sich selbst nicht zu überfordern: Kann sie das dann? Es kommt natürlich darauf an, wie sie sich am Ende verhält.
11. Oktober 2012 um 16:14
>>Helena: Ich glaube nicht, dass du deine Mitmenschen auf die Palme bringst. Ich kann mir nämlich beim besten Willen niemanden vorstellen, der auf die Einkäufe irgendwelcher Leute achtet, um dann zu vergleichen, ob diese “angemessen” sind.>>
Doch Melody, ich denke schon dass die Kombination “Dick und riesige Berge Fettiges/Süßes im Einkaufswagen” oder der Gegenpol “Schlank/Dünn und nur 1 Mager(!)milchjoghurt plus 2 Möhren” die betr. Assoziationen und Gedankengänge bei unseren Mitmenschen auslöst.
Diesbezüglich angesprochen wurde ich auch schon; aber mit nettem Unterton: “Davon wird ja nicht mal meine Schildkröte satt!” :)
So wichtig ist es sicherlich nicht, mal abgesehen davon, dass es ohnehin niemanden etwas angeht, was du isst und was du kaufst.
11. Oktober 2012 um 16:16
Nachtrag: der letzte Satz in meinem Posting ist ein Zitat aus Melodys Posting, das da oben gar nicht mit rein sollte. Bitte um Pardon für ev. “Kuddelmuddel”
11. Oktober 2012 um 17:53
Ich habe gerade eine Woche all-inclusive-Urlaub in der Türkei hinter mir, also essenstechnisch rund um die Uhr alles mögliche zur Verfügung – gesund, ungesund, süß, salzig. Und ich hatte eine Woche lang Zeit, andere Leute (nicht nur) beim Essen zu beobachten – und dabei habe ich festgestellt, manches Vorurteil stimmt, manches nicht. Ich habe immer wieder die deutlich übergewichtige junge Frau gesehen, die bei allen Mahlzeiten und auch zwischendurch Berge an Essen verdrückt hat und bei der man mehr oder weniger darauf gewartet hat, dass der Stuhl / die Strandliege unter ihr nachgibt – ebenso habe ich dieses Essverhalten aber auch bei einer sehr schlanken, älteren Dame erlebt, die Modelmaße hat. Ich habe eine anderes, übergewichtiges junges Mädchen gesehen, dass mehr oder weniger nur Obst, Gemüse und Salat gegessen hat und dabei deutlich unglücklich war. Aber eben auch schlanke Frauen, die genau diese Dinge mit Genuss gegessen haben. Ich selbst bin auch kein Hungerhaken und habe im Alltagsstreß durchaus meine Probleme, mich gesund und vernünftig zu ernähren – in der Ruhe des Urlaubs ging das ohne Probleme, viel Obst, viel Salat, gegrilltes Geflügel, das Ganze gerne und mit Genuss.
Was ich damit sagen will ist, dass es jeder selbst in der Hand hat wovon und wie er sich ernährt und was er seinem Körper antut. Damit muss jeder selbst klar kommen. Jeder muss seinen eigenen Körper akzeptieren und mit ihm umgehen können. Und ich gebe ehrlich zu: auch ich lästere gerne heimlich für mich selbst wenn dieses Klischeedenken in die ein oder andere Richtung erfüllt wird. Für mich bedeutet Körpertoleranz aber eben dass derjenige über den gelästert wird dieses nicht mitbekommt – er bzw. sie muss mit seinem Körper klarkommen.
11. Oktober 2012 um 23:32
Der Witz ist halt, dass Lästern den Lästernden unglücklich macht. Steht natürlich jedem frei, genauso wie sich jeder mit dem Hammer aufs Knie hauen darf.
Die da draussen sind nur Leinwand.
12. Oktober 2012 um 9:03
Was ich noch hinzufügen wollte: mich schockiert in dem Beitrag ja auch ein bisschen die Wortwahl – “Skelett-Exponat”, “Totenschädel-ähnlichen Kopf”, “stark übergewichtiger Fettberge” – das finde ich schon irgendwie heftig. Vielleicht wäre es ein erster Schritt zu versuchen, neutralere Worte zu finden?
12. Oktober 2012 um 9:18
Aber die ehrliche Wiedergabe der spontan gedachten Begriffe macht doch den Artikel gerade so wertvoll. Wenn man den Artikel und viele der Kommentare gelesen hat, wird man geradezu zum Reflektieren der eigenen Denk- und Verhaltensweisen gezwungen. Das wäre kaum möglich, wenn sich alle Beteiligten nur in Andeutungen ergingen …
12. Oktober 2012 um 9:56
Helena: Entweder gehe ich zu selten einkaufen oder ich habe einfach was Besseres mit meiner Zeit zu tun, als mir unqualifizierte Gedanken über andere zu machen.
ubarto: Die Unterhaltung ist für mich sehr interessant, das fängt ja gerade damit an, dass Menschen wie ich ganz ungeniert als “Fettberg” bezeichnet werden (wären ausländische Mitbürger das Thema, würde jeder vergleichbare Beleidigung einen weit verlinkten Sturm der Entrüstung losgetreten haben (hoffe ich)).
Fettberge sind nur minderwertiger entbehrlicher Menschenmüll und keinen Aufruhr wert, wenigstens muss man nicht lange überlegen, wie es gemeint ist – da bin ich ganz bei Stefan, Andeutungen wären nicht so unmissverständlich gewesen.
Skelett-Exponat und ähnliche Beleidigungen verwirren mich eher, weil ich immer noch nicht verstanden habe, ob man jetzt generelll nicht dünn sein darf, ob man es denn ohne Schuldzuweisungen sein darf, wenn man magersüchtig ist oder ob man generell das eigene Aussehen und die eigene Gesundheit gefälligst in Ordnung bringen muss, bis sich auch die letzte dauerfrustrierte Tante auf dem Planeten an nichts mehr stört (was ja nun mal unmöglich ist, denn frustrierte Tussen sind überall und nie zufrieden zu kriegen).
Die Lösung kann nicht bei denen liegen, die aus dem Rahmen fallen – nur bei denen, die Frust mit sich selbst haben und nicht verstanden haben, dass Abneigung gegen andere Körperformen ihnen nicht zu Attraktivität verhilft.
12. Oktober 2012 um 9:58
@ trippmadam: rein persönliche Erfahrungswerte zeigen, dass dieses Verhalten in allen Schichten auftaucht.
Und: Ungesunde Ernährung sei billiger lass ich nicht gelten – im Sinne von “da machen wir es uns zu einfach”. Wenn eine Familie in den Fast Food Schuppen geht, habe ich für dasselbe Geld ein vollwertiges Essen gekocht.
Ansonsten darf man mich gerne duzen…
12. Oktober 2012 um 10:10
Meistens lasse ich Fremde gedanklich in Ruhe. Vielfalt und Punkt. Wenn eine Situation wie die hier berschriebene das Wegsehen kaum möglich macht – Vorturnerin! – geht es mit ähnlich.
Als echte ehemalige Essgestörte kenne ich diese aggressive innerliche Reaktion auf ungesund mager wirkende Menschen. Manchmal sind es auch äußerlich ganz unauffällige Personen, die ich “Kennerin” als essgestört identifiziere. Auch da kann ein Wutgefühl aufkommen. Mich macht es wütend und traurig, dass die Krankheit so verbreitet ist und ich will die Personen schütteln und sagen: Wach auf!, es kann wirklich vorbei gehen.
Dass der Leidensweg oft lang und gefährlich ist, das ist das Schreckliche. Das wünscht man keiner/m.
Und da es sein kann, dass ich mit allen Vermutungen falsch liege, sage nie was. (Hat bei mir damals auch bloß gestört und nicht geholfen wenn jemand Fremdes sich anmaßte, mich anzuquatschen).
Aber meine Erinnerung wacht halt auf und deshalb muss ich mich für solche Gedankengänge nicht entschuldigen, sie sind begründet und nicht unreflektiert. Ist bei Ihnen, Frau Kaltmamsell, ja auch der Fall.
Meine Wut richtet sich nicht auf die Person sondern auf die Falle, in die so viele tappen.
12. Oktober 2012 um 11:12
@Stefan: ja, es ist für den Anfang vielleicht nicht verkehrt, die halbgaren Gedanken in allen (krassen) Facetten auszuformulieren und zuzulassen. Aber um zu einem besseren Umgang mit anderen Menschen und auch sich selbst zu finden hilft es meiner Erfahrung nach, wenn man dann bewusst versucht, wohlwollender zu sein – und bei der Sprache fängt das nunmal an. Das geht alles nicht von heute auf morgen, das ist ein Prozess. Und man muss sich eben wirklich mal damit auseinandersetzen. Ich glaube schon daran, dass man dicke Menschen irgendwann anders betrachtet, wenn man sie in Gedanken eben als dicke Menschen und nicht als übergewichtige Fettberge bezeichnet, ebenso wie sich die Einstellung gegenüber dünnen Menschen ändert, wenn sie im Geiste dünn nenne und nicht skeletös, geisterbahngeeignet oder ähnliches.
@melody:
“Fettberge sind nur minderwertiger entbehrlicher Menschenmüll und keinen Aufruhr wert, wenigstens muss man nicht lange überlegen, wie es gemeint ist – da bin ich ganz bei Stefan, Andeutungen wären nicht so unmissverständlich gewesen.
Skelett-Exponat und ähnliche Beleidigungen verwirren mich eher, weil ich immer noch nicht verstanden habe, ob man jetzt generelll nicht dünn sein darf, ob man es denn ohne Schuldzuweisungen sein darf, wenn man magersüchtig ist oder ob man generell das eigene Aussehen und die eigene Gesundheit gefälligst in Ordnung bringen muss, bis sich auch die letzte dauerfrustrierte Tante auf dem Planeten an nichts mehr stört (was ja nun mal unmöglich ist, denn frustrierte Tussen sind überall und nie zufrieden zu kriegen).
Die Lösung kann nicht bei denen liegen, die aus dem Rahmen fallen – nur bei denen, die Frust mit sich selbst haben und nicht verstanden haben, dass Abneigung gegen andere Körperformen ihnen nicht zu Attraktivität verhilft.”
Amen :-)
Zum Dünnsein: In den Augen mancher Leute darf man das generell nicht sein ohne sich den abenteuerlichsten Vermutungen aussetzen zu dürfen. Wobei der Maßstab hier auch wieder schwankt, ich habe von “Nehmen Sie Sich doch noch was, Sie sind doch so ein Hungerhaken” (vom Chef am Buffet der Weihnachtsfeier) bis “Finger weg, das macht ne starke Hüfte” (vom Kollegen, als ich mir bei einer Geburtstagsfeier ein zweites Stück Kuchen nahm) auch alles gehört.
Also im Klartext: Man kann es nie allen rechtmachen, irgendwelche Leute fühlen sich immer bemüßigt blöde Kommentare zu machen – und da ich davon die Nase voll habe, gibts bei sowas nur noch unmissverständliches Kontra.
12. Oktober 2012 um 15:40
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Genau!
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