Excuse me?
Sonntag, 28. Dezember 2003 um 10:10Ich hatte mich so darauf gefreut: “Das Jahr des Inneren Englands” kündigte die Wochenend-Beilage der Süddeutschen Zeitung als Essay an. Und dann dieser Blödsinn.
Zwar sind alle England-Klischees bedient, die der Deutsche landläufig so hat (halt! Zwei fehlen: das angeblich so schlechte Essen und das angeblich ständig schlechte Wetter.). Aber der Essay enthält nichts von dem, was Großbritannien so angenehm und teilweise vorbildlich macht. Die Klasse, aus der sich die ausgeweideten Klischees speisen, ist die Middle Class, eher Upper Middle Class. In der auf dem Land gelebt wird, in Clubs gegangen, sich in Tweed gewandet wird, in der die Eigenheime Swimming Pools haben. Pssssst! Das ist eine sehr kleine Minderheit in England! Doch es ist die Mehrheit, die mich bei jedem Besuch wieder umhaut.
Tatsächlich erhellende Lektüre ist zum Beispiel Anke Gröners Bericht ihres ersten London-Besuchs. (Leider kein direkter Link möglich, also bitte ins Archiv klicken und dort Oktober 2003 wählen.)
Es ist der alltägliche Umgang mit der Umwelt, den die Briten meiner Meinung nach perfektioniert haben. Das fast völlige Fehlen des Nölens – einfach weil es unhöflich wäre. Die Kunst, in jeder Situation mit jedem anderen Konversation machen zu können – unabhängig vom Temperament, sogar sehr schüchterne Briten sind dazu fähig.
Es gibt allerdings Seiten am alltäglichen Großbritannien, die Schulbücher und Reiseführer hartnäckig verschweigen. Zum Beispiel die weit verbreitete weibliche Aggression auf Partys oder in Clubs. Britinnen in Feierlaune stellen für männliche Wesen eine sehr ernst zu nehmende Gefahr dar. Diese geht von derber verbaler Anmache bis zum energischen Griff ans Gemächt. And they WON’T take “No” for an answer! Glücklicherweise sind entsprechende Damen leicht und schon von ferne zu erkennen, da sie immer in Pulks auftreten und gerne glitzernde Erkennungszeichen tragen (überdimensionale Diademe, Engelsflügel, Faschingsuniformen). Bei meinem letzten Brighton-Besuch* sah ich sogar die ersten Schilder an Bars, die damit warben, dass sie KEINE solche “Hen Nights” zulassen.
Aber an sich ging es ja um die vorbildlichen Seiten Großbritanniens. Die Freundlichkeit der Menschen reicht bis in die Bürokratie. Zwar funktioniert genauso wenig wie bei uns, nur viel entspannter: Niemand nörgelt oder beschwert sich, niemand wird laut. Statt dessen bekommt man beim Rennen von Pontius zu Pilatus regelmäßig einen Stuhl und eine Tasse Tee angeboten. Ich kriege einfach den Eindruck nicht los, dass die Leute einander wohl gesonnen sind.
Mir gefällt ehrlich gesagt auch der niedrigere Lebensstandard in England. Ich bilde mir ein, dass daraus ebenfalls eine bestimmte Gelassenheit resultiert.
Ein sehr schönes Beispiel für diese Lebensart und Grundhaltung ist meiner Meinung nach der britische Koch Jamie Oliver, respektive seine Kochbücher und seine Website. Einfach mal ein bisschen lesen und blättern: Ich kenne eine Menge Briten, die so drauf sind.
Nein, mit der brutalen, imperialistischen und national-chauvinistischen Geschichte Großbritanniens kriege ich das beim besten Willen nicht zusammen. Aber muss ich das?
*hier jetzt aber endlich mal der Link zu meinem definitiven Lieblingshotel: Hotel Pelirocco (Achtung Flash!)
die Kaltmamsell6 Kommentare zu „Excuse me?“
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28. Dezember 2003 um 13:48
Es gibt einen halbherzigen Direktlink. Wer ohne meine Navi leben kann, darf hier hin klicken:
Und danke für die Erwähnung. Und den Eintrag überhaupt. Ich hab Heimweh.
29. Dezember 2003 um 12:44
Ein grosser Unteschied zwischen Deinem Lieblingsstaat und Deinem Wohnland (darf ich Deutschland so nennen?) ist, dass der englische "Beamte" nicht prinzipiell davon ausgeht, dass ihn sein Gegenüber verarschen will. Was übrigens in Deutschland wirklich der Fall ist! Ich habe meine Wohnung in Thun am 7. Dezember einem Nachmieter übergeben. Mit einer mündlichen (!) Absprache, dass er mir 3/4 des Monatszinses auf mein Postchequekonto (für nicht-Schweizer: Postbankkonto) überweisen solle. Ohne Vertrag! Und was sehe ich heute? Ich habe das Geld tatsächlich bekommen. Ok, ohne einen 9-Monatsaufenthalt in Deutschland hätte ich das auch nie in Frage gestellt, aber ich warte immer noch auf die Auszahlung meines Mietzinsdepots der Wohnung in Augsburg. Und leider teile ich die amerikanische Einstellung, dass 10000 Lawers on the ground of the Atlantic a good start seien, deshalb habe ich keine Lust, meinen ehemaligen Vermieter vor den Kadi zu ziehen. Aber trotzdem! Das liebe ich an England: Auch dort ist ein Vertrag eine Abmachung, nicht ein Blatt Papier, auf welchem was geschrieben steht!
29. Dezember 2003 um 8:41
Na, na, da mus ich mein Wohnland dann aber doch verteidigen. Mit meiner Münchner Wohnung lief es wie bei Dir in Thun: Ich habe mit den Vormietern die Ablöse für die Küche und einen Teil der Monatsmiete mündlich vereinbart – und das dann einfach überwiesen. Keiner zweifelte am anderen.
Während meine Tante aus Italien erzählte, dass sie fast nicht zu Weihnachten nach Deutschland kommen konnte, weil ihr Chef sich ganz plötzlich an den mündlich vereinbarten Urlaub nicht mehr erinnern konnte. Hallodris gibt’s halt überall.
30. Dezember 2003 um 20:44
Bei aller Sympathie gegenüber dem gesprochenen Wort: Wer schreibt, der bleibt!
Alles andere ist sentimental oder findet auf irgend einer kleinen Insel oder im Dorfe statt.
30. Dezember 2003 um 20:48
@Thuner: Hatte eigentlich immer und auch öfters eher den Eindruck, dass mich Beamter in D-Land veralbern will. Lag ich da wirklich so falsch?
30. Dezember 2003 um 21:44
@Gerhard
Ich kann mich nur noch an meinen ersten Tag auf der Einwohnermeldekontrolle (sic!) erinnern. Ich hatte leider vergessen, die 234706234 Formulare auszufüllen, die ich brauchte, um die Niederlassungsbewilligung zu erhalten. Nur stand ich schon 7 Stunden in der Schlange, als ich im Büro der Beamtin darauf aufmerksam gemacht wurde. Doch ein freundliches Lächeln und die Bemerkung, dass ihr Job schon furchtbar stressig sei, hatte sie dazu gebracht, dass sie die Formulare für mich ausgefüllte. Nein, von den Beamten fühlte ich mich definitiv nie verarscht!