Kantinen-Soziologie
Freitag, 16. Januar 2004In großen, alten Unternehmen gibt es Kantinen. Die wiederum sind ganz eigene Biotope (in diesem Fall ein Biotop mit Brauerei-Möblierung aus den 70er Jahren) mit eigenen Gesetzen. Nachdem ich seit eineinhalb Jahren regelmäßig in dieser unserer Kantine zu Mittag esse (große Salatbar!), durchschaue ich langsam ein paar dieser Regeln. Zum Beispiel gehen die Leute immer in ganz bestimmten Gruppen zum Essen – meist mit Kollegen aus der eigenen Abteilung. Diese Gruppen haben feste Sitzplätze. Man muss also nur zu einer bestimmten Zeit (die Herrschaften gehen immer um ungefähr dieselbe Zeit zum Essen) in eine bestimmte Ecke der Kantine sehen, um zum Beispiel mitzubekommen, dass jemand Urlaub hat. Als ich heute zum Beispiel früher als sonst an einem 18er-Tisch Platz nahm, an dem nur zwei hemdsärmelige Herren saßen, war ich innerhalb weniger Minuten von kräftigen Ingenieuren im Arbeitskittel eingekesselt: Ich hatte mich unwissentlich an „ihren“ Tisch gesetzt.
Bestimmte Speise-Partnerschaften scheinen auch an bestimmte Tätigkeiten gebunden zu sein. Viele Jahre lang gingen ein älterer adretter Herr aus der Werbeabteilung (Grafiker) und ein langjähriger Kollege aus dem Einkauf miteinander in die Kantine. Da sie beide mittags eher weniger Appetit hatten, teilten sie sich immer eine Portion. Vor über einem Jahr ging der Grafiker in Rente und wurde durch einen jungen Mann ersetzt, dessen künstlerische Ader bereits am Ziegenbärtchen und am langen, dunklen Haupthaar erkennbar ist. Seither sehe ich den Herrn aus dem Einkauf jeden Tag mit dem neuen Grafiker in der Kantine sitzen. Ob das wohl in seinem Arbeitsvertrag steht? Allerdings ist sein Appetit ganz offensichtlich größer als der des Vorgängers: Ziegenbärtchen holt sich immer eine ganze Portion.
Kürzlich setzte ich mich zu Kollegen. Im Gespräch erzählte ich Ihnen, dass ich ja wohl künftig immer allein zum Mittagessen kommen würde, da meine sonstige Begleitung in den Mutterschutz geht. Am Nachmittag stand unvermutet einer dieser Kollegen etwas verlegen in meinem Büro: Er lud mich in aller Form ein, künftig mit ihm und seinen Kollegen aus der Abteilung zum Mittagessen zu gehen. Da war ich ja schon gerührt. Doch als er mich vorsichtig darauf hinwies, dass diese Gruppe leider eben schon immer recht früh zum Essen gehe, nämlich um 12 Uhr, und ob mir das was ausmache – da hätte ich ihn knutschen mögen.