Diätterror – die Serie (8): Catch 22
Sonntag, 7. März 2004 um 15:13Folgen (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
Draußen scheint die gelbe Sau(TM), von meinem Bürofenster aus sehe ich ganz viel blauen Himmel, auf dem zwei Haufenwölkchen surfen. Mein Herz hüpft und schickt Visionen in mein Hirn: Ich im geblümten Tüftelimüfteli-Kleid, die nackten Füße in hochhackigen Sandälchen spazieren mich über eine Wiese, Wind zaust an meinen Haaren, die Sonne erkundet meine nackten Schultern.
BLÄÄP, BLÄÄP, BLÄÄP! Der automatische Illusionsalarm zerschießt das Bild: In einem schulterfreien Tüftelimüfteli-Kleid sähe ich bei Größe 46 aus wie eine flusige Qualle in Horrorfilm-Format, Schuhgröße 41 verbietet jeden Diminutiv an der Sandale.
Und jetzt kommt der Catch: Eine Frau wie ich DARF sich damit nicht quälen. Unsereiner MUSS auf Teufel komm raus darüber stehen.
Wir haben ein klasse Elternhaus, liberal und offen. Unser Geist ist brillant, unsere soziale Intelligenz macht uns sympathisch. Es gibt keine offensichtlichen Kindheitstraumen (Missbrauch, Gewalt, Todesfälle). Ich selbst kann nicht mal auf die heute so weit verbreitete Hochbegabung als Entschuldigung zurückgreifen. Unsereiner findet sich bevorzugt in gesellschaftlichen Positionen, in denen wir von vielen Frauen beneidet werden.
Unsere psychische Karriere sieht üblicherweise wie folgt aus:
In der Pubertät sind wir noch auf die Diät-Maschinerie reingefallen. Brigitte-Diät war die weit verbreitete Einstiegsdroge, da sie so schön ernährungswissenschaftlich unterfüttert war. Wir waren schon damals reflektiert und ließen uns keine kurzfristige und einseitige Ananas- oder Würstchen-Diät (gab’s in den 80ern übrigens tatsächlich) einreden. Mittelfristig führte das dennoch zu nichts.
Also haben wir die grundlegende Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper erkannt und daran gearbeitet:
– Das weibliche Schönheitsideal ist lediglich eine subtile Unterdrückung aller Errungenschaften des Feminismus.
– Wahre Schönheit kommt von innen.
– Eine gute Figur oder auch nur Attraktivität kann nicht in Kilos gemessen werden.
– Selbst Models sehen nicht aus wie auf den nachbearbeiteten Fotos.
– Erfolg in der Liebe hängt nicht nur vom Aussehen ab.
– Wir lassen uns vom Diätterror nicht unterdrücken!
Oft ging das ein paar Jahre lang gut. „Warum darf es große wie kleine Menschen geben, aber nicht dünne wie dicke?“, riefen wir. Wir bildeten uns, kamen voran, sammelten Erfolge. Hin und wieder sahen wir uns unvermutet und ohne Vorbereitung im Spiegel und gingen dann an diesem Tag lieber erst gar nicht vor die Tür. Nicht etwa, weil wir unseren Anblick nicht ertragen hätten – WIR waren doch nicht so oberflächlich! Sondern weil, weil, weil… – wir ohnehin lieber an diesem einen schwer verdaulichen Buch rumlasen. Hin und wieder wurden wir beim Anblick einer schönen, schlanken Frau oder eines unglaublich begehrenswerten Mannes schlagartig todtraurig. Nicht etwa weil uns die Erkenntnis durchfahren hatte, dass uns der Zugang zu dieser Welt für immer versperrt war – diese Leute verachteten wir ja! Sondern weil, weil, weil… – wir vermutlich dieser Tage unsere Periode bekommen würden. Vielleicht fanden wir ja irgendwann die Energie, die eine oder andere Kleidergröße weniger zu werden und diese Figur mit ungeheurem Aufwand und Selbstbetrug zu halten. Aber selbst dann fühlten wir uns wie Betrügerinnen, in denen die eigentliche Dicke lediglich unterdrückt war.
Gerne gab es an jeder Stelle dieser Diät-Karriere Ausreißer ins Pathologische, also Anorexie oder Bulimie. Oder und.
Frauen, die schon immer intellektuell frühreif waren, haben sich in der Lebensmitte bereits mehrere hundert Mal durch diese Möbius-Schleife der Selbstreflexion gedacht.
Uns geht es deshalb tatsächlich erst mal um die Erlaubnis, uns so richtig scheiße zu fühlen. Das haben wir uns nämlich nicht zugestanden – aus all den genannten Gründen. Unsereiner DARF gar nicht unter solchen Oberflächlichkeiten leiden. Die einen wurden esskrank, die anderen depressiv, einige beides. Wobei das natürlich nie nur eine Ursache hatte.
Damit abfinden? Was heißt hier abfinden? Mit einer chronischen Krankheit muss man sich abfinden, mit dem Verlust eine Beines, des Augenlichts. Die eigene Körperform sollte nichts sein, mit dem wir uns „abfinden“ müssen.
Aber ja aber natürlich aber sowieso wissen wir um unser geniales Hirn, mind the size of the universe etc., etc. Aber wie gut diese Assets erst kämen, wenn wir sie in einem roten Schlauchkleid der Größe 36 präsentieren könnten…!
Lara Croft ist ja wohl das Ideal (man vergleiche dazu Betty Boop der 30er!): Messerscharfer Intellekt, Bibliotheksfüllende Bildung, artistische Körperbeherrschung – und ein Körper, der nur aus Zopf, Busen und Beinen zu bestehen scheint.
(Interessant daran übrigens, dass ihr meines Wissens alle weiblichen Klischee-Eigenschaften fehlen. Vermutlich kann Lara Croft sogar EINPARKEN!)
Lara Croft passt sogar auf einer tieferen Ebene: In dieser Schlacht ist jede eine Einzelkämpferin. Der Unterschied: Ich habe keine Ahnung, wo der Weg zum Happy End ist.
Grammatikalischer Disclaimer: Sollte niemand diese Gedanken nachvollziehen können, bitte „wir“ durch „ich“ ersetzen.
die Kaltmamsell4 Kommentare zu „Diätterror – die Serie (8): Catch 22“
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8. März 2004 um 10:52
ok,ok, ich sehe ja ein, dass ich falsch liege, wenn ich das nicht nachvollziehen kann.
Hat auch eine ganze Zeit gedauert, bis ich Frauen (incl. meiner), die glücklich ohne Erwerbsarbeit sind, nicht mehr als defizitär angesehen habe.
Hiermit leiste ich Abbitte für alle bisher verständnislosen Kommentare meinerseits. Allerdings unter dem Vorbehalt, dass du akzeptierst, dass ich dich so, wie du bist, mag (und wirklich superschlanken Frauen nur mal ästhetisch nix abgewinnen kann) …
8. März 2004 um 14:28
Me thinks die Kleidergröße 46 hat im Wesentlichen zwei Haken:
– Es gibt auch Frauen, die Kleidergröße 36 tragen und dabei intelligent, sympathisch, lebensklug sind. Da hakt’s dann mit der klassischen Intellektuellentröstung sehr schnell.
Drüberstehen ist von der Natur nicht vorgesehen. Wir sind genetisch aufs Vergleichen geeicht und dem mittels Großhirn entgegenzutreten ist schwer und klappt nur graduell.
– Der gemeinste Punkt allerdings liegt in uns selbst: Weder Seele noch Intellekt und Geist haben ein Gewicht, eine äußere Form. Dort fühlen wir uns – jedenfalls geht’s mir so – immer wie 25, frisch, beschwingt, wunderschön. Und mit diesem Innengefühl will das Außengefühl einfach nicht zusammengehen. So hängt man ein Leben lang über dieser verdammten Kluft, ein Bein diesseits, das andere jenseits.
Zwar ereilt dieses Gefühl auch zierliche Frauen, die kriegen aber eher Feedback von außen, diese Art zu denken sei spinnert und überflüssig. Der Witz dabei: Diese Art zu denken ist auch für Frauen mit Kleidergröße 46 spinnert und überflüssig, nur sind die meisten von uns kaum in der Lage den weiblichen Münchhausen zu geben.[An den eigenen Haaren aus dem Sumpf.]
Das Einzige, was ein wenig hilfreich ist, ist ein Bewußtsein für die verschiedenen Schönheitsideale in anderen Weltgegenden und über die Jahrhunderte. Mit einem Wort: hart relativieren. Mehr läßt sich kaum machen. Opfer einer Erziehung, in der eine Frau gefälligst schön zu sein hat, und nicht sie selbst bestimmt, was "schön" bedeutet, sind wir alle. Mehr oder weniger.
8. März 2004 um 16:49
Ist nicht Lara Croft die als willige Bildschirm-Puppe jedes noch so abwegige Abenteuer auf Knopfdruck bestreitet, die Wunschfigur feuchter Träume schlechthin? Ich glaube, Du unterschätzt den Fetisch-Charakter von "Lara Croft". Oder kannst Du mir erklären, weshalb ein Computer, der primär als Game-Konsole gedacht war, vom Hersteller "Commodore" ausgerechnet auf den Namen "Amiga" (2) getauft wurde?
8. März 2004 um 21:14
Kleidergröße 36 wird bei mir eh’ nix – das weiß ich seit 20 Jahren, als ich mit 14 und einer vollausgewachsenen Magersucht feststellen durfte, dass Abnehmen einfach nix bringt, wenn da ein Becken im Weg ist…
Das ist und bleibt einer größten Lacher des Universums für mich.