Synchron

Dienstag, 16. März 2004 um 9:50

Die Badehaube war derart krachgelb, dass sie im Schwimmbad einfach auffallen musste – zumal heutzutage eigentlich niemand mehr mit Badehauben schwimmt. Außerdem hatte sie auf einer Seite drei dicke schwarze Punkte. Ich amüsierte mich noch: „Sieht ja aus wie eine Blindenbinde…“, als ich auch schon begriff, dass die Haube genau das war. Denn der alte drahtige Mann, der sie trug, schwamm sehr vorsichtig und so nah am Beckenrand, dass seine Hand bei jedem Zug den Rand berühren konnte.

Derzeit sehe ich überall Blinde. Angefangen hat das mit dem Film Erbsen auf halb 6. Den habe ich zwar nicht gesehen, habe auch zu wenig Gutes darüber gelesen, als dass ich große Lust darauf hätte. Aber darin geht es um Blinde; ein frisch Erblindeter lernt von einer blind Geborenen, wie man ohne zu sehen den Alltag überlebt.

Und plötzlich sind überall Blinde. In der Straßenbahn tasten sie sich mit ihrem zwei Meter langen Stock die Stufen hoch und zu einem Sitzplatz. Ob sie bemerken, wie die sehenden Passagiere vor dem schwingenden, tastenden Stock wegspritzen, um Platz zu machen? Ich hoffe es, denn vor einem inneren Auge muss das noch lustiger sein als ohnehin schon. Auf der Einkaufsstraße kommen sie mir paarweise entgegen.

Zumindest müsste ich inzwischen das rechte Maß an Geräuschen gefunden haben, die Blinde zur Ortung von Mitmenschen brauchen. Während meines Jahres in Wales arbeitete ich einige Monate in einem Pub als Bedienung. Einmal die Woche gab es im kleinen „function room“ im ersten Stock Jazz-Konzerte. In den Pausen setzten sich die Musiker an die Bar, ich versorgte sie mit Getränken. Eines Abends war unter den Musikern auch einer ohne Augenlicht. Ich wollte alles superrichtig machen, rief mir ein paar Grundregeln ins Gedächtnis (zum Beispiel: nie den Arm nehmen, immer eigenen Arm anbieten; das hatte ich, glaub ich, aus Scent of a Woman) und kommunizierte meine Gegenwart durch geräuschvolles Gläserräumen. Nur dass ich vor lauter Eifer viel zu laut und viel zu nah an dem blinden Herrn räumte: Er fiel vor Schreck fast vom Barhocker. Mist.

Gestern dann wartete ich spätmorgens an einer Kreuzung auf meine Straßenbahn. Mein Blick fiel auf eine ältere Frau im Trenchcoat mit weißem Blindenstock und einen jungen Mann in Lederjacke. Er legte ihre Hand gerade auf den gelben Kasten an der Fußgängerampel. Die Ampel schaltete auf Grün, die beiden gingen los. Die Frau murmelte vor sich hin, der Mann wies sie freundlich an: „Nicht die Schritte zählen!“ Sie kreuzte tastend die Straßenbahnschienen, ertastete den abgesenkten Bürgersteig der Verkehrsinsel – fast. Der Mann musste sie mit einem beherzten Griff davor bewahren, in den fließenden Verkehr der zweiten Fahrspur zu marschieren. Abgesenkte Bürgersteige sind wohl ein ewiger Konfliktpunkt zwischen Rollstuhlfahrern und Blinden. Die beiden kehrten um, überquerten die Straße bei der nächsten Grünphase in die andere Richtung. Immer wieder führte der junge Mann die Hand der Frau oder richtete ihre Schultern aus. Sie wirkte durchaus vertraut mit dem Stock, aber vielleicht war sie eben erst in diese Straße umgezogen und musste die Umgebung kennen lernen.

Plötzlich wurde ich mir bewusst, dass ich die beiden die ganze Zeit schon anstarrte. Zwar machte ich dabei sicher eine freundliche Miene – aber das konnte die blinde Frau ja nicht sehen. Sie konnte meine Blicke nicht erwidern, konnte sie nicht abweisen. Verunsichert sah ich weg.

die Kaltmamsell

1 Kommentar zu „Synchron“

  1. typ.o meint:

    gucken sie den mal ruhig. ein schönes märchen. manchmal die bilder etwas überzogen (in den abgewrackten siedlungen hängen überall so lappen von den ruinen) aber ich hab wunderschön seufzen können :-)

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