Hausbesuche [3]

Donnerstag, 22. Juli 2004 um 23:36

Sie sitzt auf dem bräunlich gemusterten, wuchtigen Sofa im Wohnzimmer ihrer ein wenig altmodisch eingerichteten Wohnung. Gelsenkirchener Barock, aber unaufdringlich,
kein Kitsch, alles ganz ordentlich, sauber und gepflegt und das, obwohl sie eine so alte Dame ist, weit über achtzig.
Auch sie selbst ist sehr gepflegt, mit der frischen Dauerwelle in ihrem weißen, feinen Haar und in ihrem adretten, zartrosafarbenen Nachthemd mit den kleinen Streublümchen.
An den Füssen trägt sie dicke wollene Hausschuhe, dabei ist es hier doch so warm, mindestens 25 Grad, eher mehr.

Heute morgen hätte sie so schlimme Herzschmerzen gehabt und dann hätte sie ihn angerufen, damit er Hilfe holen kann, sagte der alte Herr, der sich jetzt nicht mehr in die Wohnung traut, lieber an der Eingangstür stehen bleibt.

Nun muss ich sie erst einmal eingehend untersuchen – vorsichtig zwar, aber gründlich.

Auf dem Esstisch steht ein kleines Gesteck aus künstlichen Blumen, ganz genau in der Mitte der kleinen weißen Decke mit Lochstickerei, die ihrerseits auf dem großen geblümten Tischtuch liegt. So exakt, so ordentlich, so staubfrei.
Es ist besser, das Tischtuch ein wenig zur Seite zu schlagen, wenn man an diesem Tisch schreiben will – es sind viele Formulare, die hier ausgefüllt werden müssen. Durchschreibsätze, da ist es besser, man hat einen festen Untergrund.
Und wenn man dann an diesem Tisch, ihr schräg gegenüber sitzt und schreibt und sie immer wieder ansieht, während man die Zeilen des Formulars ausfüllt, dann kann man sich gut vorstellen, was ihr heute morgen hier passiert sein könnte.

Aber war nicht vielleicht doch alles ganz anders?

Warum habe ich nur ein so merkwürdiges Gefühl dabei?
Warum komme ich mir vor, wie eine Verräterin und meine gleichzeitig, ich wäre es ihr schuldig?
Ich muss doch nur ein Kreuz machen, auf diesem Formular; dort, wo steht:

Todesursache ungewiss.

die Kaltmamsell

11 Kommentare zu „Hausbesuche [3]“

  1. robert meint:

    Sehr gut!
    Ansonsten Sprachlos, s.o.!

  2. Lyssa meint:

    Sehr berührt und das am frühen Morgen. Schön, daß Sie hier die verehrte Kaltmamsell vertreten.

  3. Hendrik meint:

    Dem schließe ich mich an. Dem zweiten auch.

  4. birgit meint:

    Danke! Eine hervorragende Geschichte – da fängt der Tag doch gleich viel besser an :-)

  5. typ.o meint:

    ich freue mich über ihre texte, frau pepa, neue einblicke! sie sind eine fabelhafte vertretung für frau kaltmamsell. (pssst: wenn sie auch so ein weblogdings wollen, ich wüßte da was, kommen sie doch mal mit um die ecke!)

  6. pepa meint:

    Ähm…*erröt*…Dankeschön allerseits!

    (((und psst – *hektischer rundumkopfdreh* – herr typ.o, welche ecke denn???)))

  7. pepa meint:

    Vielleicht noch etwas zum Thema:
    Berührt und manchmal sprachlos – das triff ziemlich genau die Gefühle, die ich bei einer Leichenschau auch heute noch habe.
    Ganz besonders, wenn ich sie im häuslichen Umfeld des Toten durchführen muss.
    Es ist ein ähnlich existenzieller Gefühlscocktail, wie beim Miterleben einer Geburt.
    Die Einblicke, die einem gewährt werden, gehen einem schon sehr nahe und ich muss ganz ehrlich gestehen, dass ich froh bin, dass es seit einiger Zeit hier in Berlin einen separaten Leichenschaudienst gibt.
    Dieser Fall dort oben war ja einer der ganz sanften, friedlichen.
    Es gab andere, nach denen konnte ich wochenlang nicht mehr ruhig schlafen.

  8. typ.o meint:

    hm, ja, wir haben uns da ein biotop für allerlei handverlesene lebensformen zurechtgeschaufelt, das sieht aus wie antville, riecht wie antville… ist aber hier:
    http://asconet.org:8080
    (das weblog von frau kaltmamsell mag die adresse nicht, sie müssens halt abtippen)

    wenn sie möchten, mach ich ihnen da die tür auf, sie müssen mir nur sagen, wie´s heißen soll…

    (kost nix, aber auch keine garantie für irgendwas, sie verstehen)

  9. pepa meint:

    Ähm..ja..äh, danke, das wäre lieb, darf ich vielleicht in zwei Wochen noch einmal darauf zurückkommen?Ich muss jetzt nämlich los, sonst verpasse ich meine Fähre und das wäre….
    …gar nicht auszudenken!
    ;-)

  10. ix meint:

    sehr schön. brainfartig.
    [das ist ein kompliment]

  11. Geburtstagsgeschenke meint:

    alle Achtung, bin beeinduckt.

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