Archiv für Juli 2004

Synchronizität?

Mittwoch, 21. Juli 2004

Früher musste ich ihretwegen in gebeugter Haltung und mit vorn auf dem Boden schleifendem Kittel durch die Klinikflure schleichen.
Ich liebe sie trotzdem:
Checklisten und Kitteltaschenbücher sind immer noch meine Begleiter.
Manchmal nehme ich, um zu sehen, ob ich noch einigermaßen fit bin, eines von ihnen zur Hand und schlage es an einer beliebigen Stelle auf.

Gibt es Zeiten, in denen manche Themen einfach in der Luft liegen? Oder warum bin ich gerade heute ausgerechnet beim Thema “Geburt im Rettungswagen” gelandet? Schrieb denn er nicht erst kürzlich etwas darüber?
Im Leifaden Rettungsdienst, von Lutomsky und Flake, sind alle Maßnahmen noch einmal ausführlich beschrieben:
Vom Wehen verhecheln lassen über die korrekte Durchführung des Dammschutzes bis hin zum „Durchscheiden“ des Köpfchens und der „Entwicklung“ der Schultern.
Und dann, nach all diesen fachlich-medizinischen Ausführungen, steht da plötzlich, markiert durch ein kleines rotes Ausrufezeichen am Rand:

Gratulieren nicht vergessen!

Wie gesagt, ich liebe Kitteltaschenbücher!

Jungdynamiker

Mittwoch, 21. Juli 2004

Lieber verehrter Herr Kollege,

dass Sie es vorhin nicht für nötig hielten, die von mir per Rettungswagen überbrachte Patientin zu begrüßen, könnte ich gegebenenfalls entschuldigen.Vielleicht blieb Ihnen in Ihrer Kindheit das Erlernen einiger Basisbegriffe des höflichen, mitmenschlichen Umgangs verwehrt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Umstand, dass Sie sich bei der alten Dame nicht vorstellten, aber auch das wäre ich bereit, Ihnen zu verzeihen.

Dass Sie aber der, sich vor Schmerzen windenden Frau ohne Vorwarnung Ihre Hand in das hochempfindliche Abdomen, in dem sich mit einiger Sicherheit die Perforation eines der Verdauungsorgane samt Bauchfellentzündung verbarg, rammen mussten – mit Verlaub,
DAS finde ich ein wenig UN-SEN-SIBEL.

Aber wenn Sie es noch einmal wagen, in Gegenwart eines ohnehin vor Todesangst schlotternden Patienten, eine vermutlich falsche, dafür aber umso infaustere Diagnose in die Gegend zu posaunen,

DANN TRETE ICH IHNEN PERSÖNLICH GEGEN DAS SCHIENBEIN!

UND ZWAR MIT ANLAUF!

Mit freundlichen kollegialen Grüßen,

pepa

unbekannte Lebensformen?

Mittwoch, 21. Juli 2004

Kennen Sie das?

Sie werden am frühen Morgen von einem undefinierbaren Geräusch geweckt.
Ein verschlafener Blick auf den Wecker verrät Ihnen, dass Sie eigentlich noch eine gute halbe Stunde im Land der Träume bleiben könnten.
Da Sie nun aber schon einmal wach sind, beschließen Sie, sich auf den Weg ins Bad zu machen.
Als Sie müde und mit noch halb geschlossenen Augen die Tür Ihres Schlafzimmers öffnen, werden Sie augenblicklich über den Haufen gefahren.

Das Wesen, das Sie soeben zu Fall gebracht hat, ruft Ihnen ein fröhliches: „Macht nix!“ zu,
und Sie sehen gerade noch, wie es auf einem Einrad in Richtung Küche um die Flurecke schlingert.

Nun sagen Sie mal ehrlich – ist das noch normal?
Oder ist hier bei mir gerade eine Delegation Außerirdischer gelandet?

Hausbesuche [2]

Dienstag, 20. Juli 2004

Hausbesuche zu machen, ist wie das Aufspringen auf einen fahrenden Zug.

Man rennt zunächst ein wenig nebenher, hält sich am Handgriff neben der Tür fest und springt dann auf das Trittbrett, um sich möglichst schnell in den Wagon zu hangeln.
Man läuft durch den Zug, schaut hier und da aus dem Fenster und inspiziert die Abteile. Manchmal besonders den Speisewagen, ein anderes Mal ganz genau den Schlafwagen oder die sanitären Anlagen.
Man läuft nach vorn zum Lokomotivführer und lässt sich von ihm die technischen Daten des Zuges erklären, holt mehrere Prüfgeräte aus der großen Werkzeugtasche und misst den einen oder anderen Wert.

Dann schaut man zusammen mit dem Lokführer, wohin der Zug überhaupt fährt und vor allem, wohin er fahren soll.

Manchmal muss man ein Instrument reparieren helfen, manchmal eine Achse ausbessern. Ein anderes Mal versucht man schnell eine Weiche zu stellen oder auch nur die Gleise frei zu räumen. Es gibt Fälle, in denen muss man lediglich die Frontscheibe ein wenig putzen. In anderen wiederum sieht man sich gezwungen, den Zug anzuhalten und ihn auf ein anderes Gleis zu heben, was meist sehr schwer, manchmal sogar unmöglich ist.
Und dann gibt es noch die Fälle, in denen man nichts von all dem machen kann. In denen man nur noch eine gute Reise wünscht, obwohl, oder gerade weil man weiß, dass der Zug unwiederbringlich auf den Abgrund zurast.

In jedem Falle sollte man irgendwann wieder abspringen.
Dabei muss man sehr aufpassen, nicht irgendwo hängen zu bleiben, denn
sich mitreißen zu lassen, das kann sehr schmerzhaft sein.

Olympische Disziplinen, die gerade noch gefehlt haben

Dienstag, 20. Juli 2004

Neue Kupplung -> neuen Sportart:

carjumping

Hausbesuche [1]

Montag, 19. Juli 2004

“Der französische Neurologe Francois Lhermitte geht in dieser Hinsicht besonders sensibel vor. Statt seine Patienten nur in der Klinik zu beobachten, sucht er sie zu Hause auf, geht mit ihnen in Restaurants oder Theater, macht mit ihnen Ausflüge im Auto und nimmt so weit wie möglich an ihrem Leben teil. (Ähnlich verhält oder verhielt es sich mit den Hausärzten. Als sich mein Vater auch als Neunzigjähriger noch nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen, sagten wir ihm: „Gib wenigstens die Hausbesuche auf“, aber er antwortete:„Nein, ich behalte die Hausbesuche bei und gebe dafür alles andere auf.“)”

aus:Oliver Sacks, Eine Anthropologin auf dem Mars – sieben paradoxe Geschichten

Mariella

Montag, 19. Juli 2004

„Ach übrigens, morgen kommt Mariella zum Spielen.“

Wenn meine Kinder Freunde einladen, dann stellen sie mich meist vor vollendete Tatsachen.

„Und damit Du’s gleich weißt:
Mariella darf keine Schokolade essen!“

Auf meine Frage, ob Mariella denn allergisch gegen Schokolade sei, oder vielleicht Diabetikerin, schüttelte meine Tochter energisch den Kopf.

„Nein nein, keins von beiden! Ihre Mutter sagt nur immer, dass sie von Schokolade zu fett wird.“

Meine Tochter weiß, was eine Allergie und auch, was ein Diabetes ist.
Eine ihrer besten Freundinnen muss Insulin spritzen und viele ihrer Kumpels sind Allergiker.
Dennoch konnte ich die Antwort nicht so recht glauben, denn ich hatte Mariella schon einmal gesehen (was bei den von meinen Kindern angeschleppten Kumpels nicht immer der Fall sein muss).
Sie war ein zartes, fast schon untergewichtiges Geschöpf, in gepflegten, vollkommen fleckenlosen, mädchenhaften und offensichtlich sehr teuren Kleidchen.
Ihre Körperhaltung verriet, dass sie vermutlich schon seit einiger Zeit Ballettunterricht hatte.
Als sie von ihrer Mutter zu uns gebracht wurde, fragte ich diese, ob es etwas gäbe, was das Kind nicht essen dürfte.

„Süßigkeiten!“,

die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
Auf meine vorsichtige Nachfrage, warum sie die denn nicht essen dürfe, kam tatsächlich, ich konnte es kaum glauben:

„Die machen dick!“

Diesem kleinen spindeldürren Geschöpf, mit seinen erbarmungswürdigen Streichholzärmchen und – beinchen wurde wirklich der Genuss von Schokolade, Keksen und Gummibärchen verwehrt, weil es sonst Gefahr lief, augenblicklich zu dick zu werden?
Als ich den herausfordernden Blick der Mutter sah, beschloss ich, doch lieber die Klappe zu halten.
Die Mutter ging, die Kinder spielten und irgendwann war es Zeit, etwas zu essen.
Während sich meine beiden Kids die Teller mit Spaghetti und Tomatensoße voll häuften, nahm Mariella von allem nur ganz wenig, was sie dann aber brav, gesittet und stocksteif auf der vorderen Stuhlkante sitzend aufaß.
Dabei achtete sie sehr genau darauf, nur ja nicht zu kleckern, so dass sie sehr lange an ihrer Portion mümmelte.
Meine Tochter, die sie, während sie selbst ihre Nudeln in sich hineinschaufelte, die ganz Zeit beobachtet hatte, sah mich mit ihrem „Bitte-sag-jetzt-nichts-Blick“ eindringlich an, schmiss Gabel und Löffel beiseite und griff mit der ganzen Hand beherzt in Spaghetti und Tomatensoße.

„Wir essen manchmal mit den Fingern!“
(Und damit hier keine Missverständnisse aufkommen – die Betonung liegt auf manchmal.)

Ihr Bruder zog sofort mit .Kleckern und Rumsauen ist schließlich sein Metier.
Mariella war irritiert. Ich gab ihr ausdrücklich die Erlaubnis, es den anderen nachzumachen.
Sie schaute mich weiterhin ängstlich an.
Erst als auch ich mein Besteck zur Seite legte, um ebenfalls mit den Pfoten weiter zu dinieren, traute sie sich, sehr zögernd, mit ihren winzigen Fingerchen das Essen zu berühren.

Von diesem Moment an veränderte sich das Kind.
Es war, als ob mit jedem Bissen ein wenig mehr Leben in Mariella kam.
Zuerst entspannte sich ihre Haltung, dann, ganz langsam, auch ihr Gesicht.
Nachdem sie ihre Puppenportion aufgegessen hatte, schaufelte sie sich noch einmal einen ordentlichen Berg Spaghetti auf ihren Teller – Soße wollte sie keine mehr.
Sie hatte Angst, sich zu bekleckern.
Dann aß sie eine geschlagene Stunde (die beiden anderen spielten längst schon wieder) so strahlend und mit einem derartigen Genuss, dass ich ihr einfach zusehen musste.
Zum Schluss stieg sie triumphierend auf den Stuhl, nahm immer wieder eine Nudel in die Hand, um sie dann mit einem wohligen Seufzer vom ganz nach oben gereckten Arm in den Mund flutschen zu lassen.
Zwischendurch schaute sie mich immer wieder fragend an.
Nicht nur, als müsse sie sich rückversichern, dass sie das hier auch wirklich dürfe, sondern auch ein wenig so, als wolle sie sehen, ob ich auch wahrnehme, wie gut es ihr gerade geht und ob ich sie auch weiterhin aufmunternd anlächle.
(Was ich ganz automatisch tat – ihre Freude war so groß, jeder hätte gelächelt!)

Als sie endlich vom Stuhl geklettert und sich wieder hingesetzt hatte, strahlte sie immer noch.
Nicht mehr so freudig-aufgeregt wie gerade eben noch, sondern zufrieden und ruhig, eben…

…“So, jetzt bin ich satt.“

Und irgendwie hatte ich den Eindruck , dass sie das zum ersten Mal wirklich war,

satt!

Dann fiel ihr ein : “Wenn das Mama wüsste!”

Meine Tochter erzählte mir erst Wochen später, sie habe sie damals nur eingeladen, weil sie ihr leid tat. Es wollte keiner mehr mit ihr spielen, weil sie sich, wie sie selbst sagte, aus Angst vor irgendwelchen Bakterien, ständig die Hände wusch.

Sie war zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt.

Leider habe ich dieses Kind, das in der Realität nicht Mariella heißt, aus den Augen verloren. Sie lebt jetzt in einer anderen Stadt, wo sie angeblich eine elitäre Privatschule besuchen soll.