Haltungsschaden

Mittwoch, 25. August 2004 um 9:40

Während einer zehnminütigen Fahrt ungefragt über den Taxifahrer erfahren:

– dass das Geschäft schlecht läuft
– dass er in zwei Tagen in Urlaub nach Spanien flieg, Costa Brava
– obwohl er sich bei dem schlechten Geschäft denkt, dass er die zwei Tage gar nicht erst hier sein müsste
– aber das Geld muss ja reinkommen; oder soll er ausgerechnet im Urlaub zwei Bier weniger trinken?
– dass soeben sein Antrag auf Wohngeld abgelehnt wurde
– genau, weil seine Wohnung zu groß ist – woher ich das weiß? (weil ich eine Freundin im Rollstuhl habe, deren Antrag auch mal aus diesem Grund abgelehnt wurde)
– dass er kürzlich geschieden wurde, aber er und seine Exfrau von der Baugenossenschaft keine zwei kleinen Wohnungen bekamen; da gebe es Wartelisten („wahrscheinlich wieder die Russen“)
– dass er jetzt in der großen Wohnung sitzt und deshalb 124 Euro mehr Miete zahlen muss als seine Frau
– „aber den anderen schieben sie’s hinten rein“
– dass er wenigstens bald Urlaub hat.

Mein böses und vermutlich latent neoliberales Gutverdienerinnen-Hirn denkt: Wieso glaubt jemand, der sich Urlaub an der Costa Brava leisten kann, er habe Anspruch auf Wohngeld?

die Kaltmamsell

10 Kommentare zu „Haltungsschaden“

  1. Thuner meint:

    Du hast das falsch verstanden: Solchen Leuten sollte der Staat das Wohngeld UND den Urlaub an der Costa Brava zahlen! Jawohl!

  2. pepa meint:

    Frau Kaltmamsell, Herr Thuner – Sie sagen es!
    Und man sollte auch die armen Studenten nicht vergessen!
    Was sollen die denn machen, wenn sie unbedingt in der Karibik urlauben müssen und ihre Eltern nicht mehr zahlen wollen oder können, hm?
    Schließlich hat jeder Anspruch – auf alles!
    (Und jetzt sollten wir wohl schnellstens die Köpfe einziehen – ich ahne Übles!)

  3. Gerhard meint:

    Zumindest der Urlaub auf Mallo sollte vom Sozialamt weiter bezahlt werden. Genau!

  4. die Kaltmamsell meint:

    Ach, wenn wir eh gleich Prügel kriegen:
    Zu meiner Dozentinnen-Zeit an der Uni saß ich gerne mal sprachlos vor Studentinnen, die einen Termin-Aufschub für Hausarbeiten wollten, weil sie in den Semesterferien arbeiteten – und dann erst mal in Urlaub fahren wollten von dem damit verdienten Geld.
    Ich habe jetzt noch Brandnarben von den hass-heißen Blicken, die sie auf mich schossen, denn ich machte den Damens klar, dass ihr Beruf “Studentin” war, und Urlaub für mich kein Grund zur Terminverschiebung.

  5. Huflaikhan meint:

    Prügel hin, Prügel her. Frau Kaltmasell, der Fehler fängt damit an, dass man Semesterferien sagt, statt vorlesungsfreie Zeit. Für meine Wenigkeit war das praktisch die einzige Zeit, in der man studieren konnte, ohne durch Seminare und Übungen und Vorlesungen gestört zu werden. Aber das nur eine Marginalie.

    Was ich ja interessanter finde ist die in der abgehörten Situation heraussprudelnde Darstellung der Benachteilungsgesellschaft (mbH). „aber den anderen schieben sie’s hinten rein“ – so etwas hätte eine reale Chance auf einen Sommerhit. Das müsste man natürlich vom Einzelfall zurückrechnen auf den Gesamtzustand und wie er das produziert. Erhöhes Auftreten von Neid und Missgunst sind ja keine zufälligen Ereignisse, sondern, wie der Marx-Exeget weiß, Zeichen, wo nicht gar Manifestationen notwendig falschen Bewusstseins. … aber darüber ließen sich jetzt Seiten mit Ausführungen und Erklärungen füllen.

  6. die Kaltmamsell meint:

    Ertappt, Junker Huf! Nur wer sein Geld schon mal an der Uni verdient hat, besteht auf der Bezeichnung “vorlesungsfreie Zeit”. (Nebenbei: Unter diesen Leuten sowie bei Schulpersonal hält sich auch der Begriff “Freie Wirtschaft”.)
    Ja, der Eintrag war ursprünglich doppelt so lang und führte den Unterschied zwischen Bedarf und Anspruch im Zusammenhang mit staatlichen Leistungen aus. Aber dann kam ich mir plötzlich vor wie Tante Prusseliese und kürzte.

  7. Melody meint:

    Einmal Tante Prusseliese bitte. Mit Bild.

  8. die Kaltmamsell meint:

    Biddeschön. Mit Bild.

  9. Melody meint:

    :D

  10. Thuner meint:

    Noch besser:
    http://www.gmx.net/de/themen/nachrichten/deutschland/soziales/389716,cc=000000160300003897161T7BPq.html
    Es trifft einen von uns, dann lassen wir es bleiben…

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