Schön
Freitag, 10. September 2004 um 9:22Zwar würde ich gerne wissen, wie es sich anfühlt, von Natur aus eine atemberaubend schöne Frau zu sein – aber mein Wunschtraum ist das nicht. Weil ich mal eine atemberaubend schöne Frau näher kannte und miterlebte, welchen Preis diese Schönheit hatte.
Als ich Birgit über eine Mitstudentin kennen lernte, waren wir Anfang 20, und sie hatte eben ihre Lehre als Goldschmiedin abgeschlossen. Birgit hatte lange dunkle Locken, ein aristokratisch fein ziseliertes Gesicht, sie war groß und sehr schlank, hatte endlose Beine und Arme. Ihr Lächeln war ein bisschen vorsichtig, aber immer warm, ihre Bewegungen ein wenig eckig, aber immer ruhig. Ach, das sind alles minder wichtige Details: Birgit tauchte auf und erfüllte den Raum, die Gesellschaft mit Schöhnheit. Sie zog die Blicke jedes und jeder Anwesenden an und löste Wohlgefallen, Lächeln, Herzklopfen, Verzauberung, Sehnsucht aus – niemals Gleichgültigkeit oder gar Missfallen, wenn auch manchmal Neid. Birgit an ihrem Goldschmiedetisch, wie sie den langen edlen Nacken unter den hochgesteckten Locken über ein Schmuckstück beugt, ihr hellhäutiges Gesicht von der Reflexion der Arbeitsfläche beleuchtet, die Ruhe und das Geschick ihrer geschulten Finger in Bewegung. Birgit am Esstisch der Altbau-WG, in wie immer sehr praktischer und unauffälliger Kleidung, beim Zigarettendrehen schmunzelnd dem Gespräch folgend, an dem sie sich meist nur durch kurze und kluge Bemerkungen beteiligte. Oder sie erzählte von einer ihrer berüchtigten Getränkepilz-Plantagen, die sie zum großen Ekel ihrer Mitbewohner in einer großen Glasschüssel auf der Waschmaschine im Bad anlegte.
Birgit konnte sich nicht mal erlauben, sich für ein Fest ein wenig zu schminken, etwas Hübsches anzuziehen, mehr Schmuck anzulegen – weil sie damit ihre Schönheit ins Unerträgliche verstärkte. Dann stand sie wieder den ganzen Abend allein rum, niemand traute sich auch nur in ihre Nähe. Die Menschen, die sie bereits kannten nicht, weil sie das Gefühl hatten, sich neben ihr in ein buckliges, schrumpliges Nichts zu verwandeln. Unbekannte nur volltrunken, weil sie unwirklich und wie aus einem anderen Universum wirkte. Seither verstehe ich, warum so schöne Menschen oft unter sich sind – nur ebenso schöne Menschen können diese Erfahrungen wohl nachfühlen.
Das änderte sich auch nicht, als Birgit sich die Haare abschneiden ließ. Oder als die Malaria sie zeichnete. Oder wenn sie morgens faltig gelegen und zerstrubbelt in einem löchrigen Schlafshirt beim Frühstück auftauchte. Jede Veränderung hob lediglich einen Aspekt ihrer Schönheit besonders hervor.
Ihr Ehrgeiz lag bei ihrem Beruf. Doch im Handwerk scheint bei Bewerbungsgesprächen große Schönheit eher zum Rückschluss auf geringe Kompetenz zu führen: Birgit war froh, wenn sie überhaupt mal die Chance bekam, ihr Können praktisch zu beweisen. Sie hatte sogar den Verdacht, dass ihre hervorragenden Zeugnisse nicht ernst genommen und lediglich mit der betörenden Wirkung ihres Aussehens erklärt wurden (auch wenn sie selbst das nie so formulierte). Selbst die Bürojobs, um die sie sich in besonders mageren Zeiten bemühte, gingen eher an Frauen, die eine weniger große Ablenkungsgefahr darstellten.
Solch große Schönheit kann einsam machen. Und doch überwiegt in meiner Erinnerung die Freude darüber, dass ich ein paar Jahre lang jemand so schönen betrachten durfte.
die Kaltmamsell5 Kommentare zu „Schön“
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10. September 2004 um 10:45
Ein wunderschöner Eintrag!
Hoffentlich lesen möglichst viele Birgits, wie sie hier von Dir so warm und liebevoll in den Arm genommen werden.
10. September 2004 um 19:14
zum glück bin ich ein buckliges, aknegezeichnetes wichtelchen, das in jedem (und jeder!) sofort den hege- und tröstetrieb weckt! (vielleicht ist ja auch das internet voll von vereinsamten claudia schiffers und keanu reeves)
nene, sie haben sehr recht, frau kaltmamsell, diese scheu kenne ich auch…
11. September 2004 um 11:22
Ich begann gerade von Birgit zu schwärmen, da bemerkte ich, dass Du ein ganz raffiniertes, beinahe Sokratetisches Spielchen treibst. Wie soll nun Deine frühere Freundin gegen die Schönheit Deiner Worte bestehen?
Ein hervorragender Text.
11. September 2004 um 13:41
Hm, maz, ich schwanke, ob ich mich nun lieber mit Cyrano de Bergerac identifizieren möchte (große Nase hätte ich schon mal) oder mit Petrarca (der seine viel besungene Beatrice beim Nahen der Pest umgehend hat sitzen lassen).
13. September 2004 um 11:54
Danke für diese eine Perspektive.
Als ich mir Gerard Depardieu genauer ansah, stellte ich fest ich finde diesen Mann schön. Nicht hübsch, sondern schön. Hübsch ist oberflächlicher. Schön ist anderser. Zumindest für mich.