Jacques Derrida ist gestern gestorben
Sonntag, 10. Oktober 2004 um 11:51Ich kannte ihn nur aus der Literaturtheorie. Derridas dekonstruktive Lese-Ansätze führen zu Aussagen über die Struktur von Sprache, Mechanismen der Rhetorik, Gedanken-Gewebe – viel eher als zu neuen Interpretationen. Sein Off Grammatology hat mich im Endeffekt erst zur Reader Response Theory geführt –weil ich das von ihm beschriebene play of meaning (das oft als Beliebigkeit von Interpretation missverstanden wurde) im Rezipienten verankert sehe.
Und jetzt bin ich höllisch gespannt, wie all die Nachrufe in den Feuilletons seine komplexen Theorien versuchen wiederzugeben. Das Prägen des Begriffs „Dekonstruktion“ war ja eher Zufall. Allerdings scheint sich das Wort im Deutschen ohnehin als Synonym für „Demontage“ zu etablieren und den Bezug zu Derridas Theorie zu verlieren.
die Kaltmamsell8 Kommentare zu „Jacques Derrida ist gestern gestorben“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
10. Oktober 2004 um 14:49
Ich stieß im Amerikanistikstudium auf Derrida und fand den Ansatz – nicht als erschöpfende Theorie, sondern als Werkzeugkasten – sehr interessant im Zusammenhang mit Thomas Pynchon et al. hin zu John Irving, den man unter all der post-postmodernen Erzähl-Saga-Trivialmythenschicht sehr schön “dekonstruieren” kann – bis hinab auf sehr spezifisch amerikanische Gesellschaftdeterminanten.
Und auf die (weiteren) Nachrufe bin ich auch sehr gesapnnt. Jetzt beginnt die Mythenbildung ;-)
10. Oktober 2004 um 15:11
Einer, von dem ich kein Wort verstanden habe. Außer vielleicht in Gesprächen mit … Aber, da er mal den Adorno-Preis bekommen hat, dürfte er schon was auf dem Kasten gehabt haben. Ich meine, Artikel mit einem Titel wie “Kraft und Bedeutung” klingen saugut in dem superbuch “Die Schrift und die Differenz” (klingt auch toll), die haben ganz großen Reiz. Aber: Nüscht kapiert, null. Dekonstruktion ist irgendwann zu so einem bekloppten Hülsenwort verkommen und meint dann, wie du sagst wohl nur etwas wie Demontage. Naja. Ich gehe erst mal einen Espresso dekonstruieren.
10. Oktober 2004 um 16:24
Au ja, Junker Huf, und dann erzählen Sie uns die inneren Widersprüche.
Sehr profitiert habe ich übrigens von Jonathan Cullers On Deconstruction. Ich glaube, es hilft sehr, Derrida auf Englisch zu lesen, nicht auf Deutsch. Auf Englisch habe ich sogar ein bisschen Heidegger kapiert. (Bei Lyotard und De Man hat nicht mal das geholfen, zugegeben.)
Wer ein bisschen glatter in Derridas Theorien reinrutschen möchte, dem hilft als Gleitmittel vorher Strukturalismus nach Saussure gelesen zu haben. Meinen Sie auch, kid? Mir hat Derridas Werkzeugkasten übrigens bei T.S. Eliots Waste Land geholfen. Es hat mir hier sehr gut getan, vom Zwang des Suchens nach Interpretation befreit zu werden.
Und der Adorno-Preis wird doch eh für überragende Unverständlichkeit verliehen, dachte ich?
10. Oktober 2004 um 22:40
Soso, einen Werkzeugkasten hats beim Derrida innen drinnen? Da werd’ ich ich wohl mal kramen müssen. Schrauben locker habe ich einige. Klicker.
Wissen Sie Frau Kaltmamsell, Herr kid, gibt es denn einen guten Grund für die Notwendigkeit des Dekonstruierens? Ich bin ja vielleicht doch etwas simpel selbst; alles Mögliche, oder wenigstens vieles Mögliche lief mir über den Weg. Das Entmythologisieren, die Ideologiekritik, die Hermeneutik (die auch nie verstand als Technik, so sie eine ist), das Materialisieren und Entmaterialisieren, die Semiotik und die Semiologie. Kurzum, warum Dekonstruktion? Das habe ich mir gewiss einmal erklären lassen aus berufenem Munde und staunte Bauklötze und vergaß es wieder.
Vielleicht war ich mit 20 auch zu jung für Derrida, aber er besprach Edmond Jabès, den ich sogleich las und auch nicht verstand und dabei dachte, warum auch muss ich denn immer alles verstehen wollen. Das ist ein Text, das Kunst. Kunst sagt doch nicht immer: “Versteh mich” sondern vor allem doch auch “Versteh mich nicht sondern lies.” So etwas wie »Die vier Jahreszeiten des Menschen sind Sehen, Hören, Wort und Fühlen. (Reb Atias)« [Jabès, Das Buch der Fragen]
Und ich mache die Probe aufs Exempel. In dem Aufsatz zu Jabès von Derrida habe ich an den Rand doch tatsächlich Ausrufezeichen gemacht, die betreffen allerdings immer nur Jabès. Da lese ich jetzt mit den einleitenden Worten Derridas: “Psychische Untergrabung der Literalität, das heißt der wieder zur Natur gewordenen Natur oder Rede. Diese Über-Macht als Leben des Signifikanten ereignet sich in der Unruhe oder Irre der Sprache, die immer reicher als das Wissen ist, und der es nie an Bewegung mangelt, um weiter als die friedliche und seßhafte Gewißheit zu gehen. »Wie soll ich, was ich weiß / mit Worten sagen, deren Bedeutung / vieldeutig ist?«”
Nun frage ich mich, wer “erklärt” hier wen?
Wenn ich diesen Derrida lese, dann werde ich nicht das Gefühl los, dass ich lese, wie Derrida Derrida liest. (Zumindest hier bei den Texten, die 1967 veröffentlicht wurden).
2003 haben Habermas und Derrida zusammen ein “Plädoyer für eine gemeinsame Außenpolitik – Die Wiedergeburt Europas” verfasst. Das hat mir gefallen, zumal sich Intellektuelle zusammenfinden und in konkreten politischen Situationen ihre Nähe über den Bogen der Sprachweisen hinaus gefunden haben.
Herr kid, ich hoffe sehr, dass es nicht zu einer Mythenbildung kommt, denn die, scheint mir, haben wir hinter uns. Laermann hat dies einmal in den 80er Jahren in dem amüsanten Aufsatz “Derridada und Lacancan – Zur Frankolatrie in den Geistenwissenschaften” geschildert. Wobei!: Der Vorwurf Laermanns traf nicht Derrida sondern die wortgewaltigen aber inhaltslosen “Nachahmer”.
Aber jetzt wirds auch schon langweilig mit diesem Kommentar.
11. Oktober 2004 um 7:56
Was Thomas Steinfeld heute im SZ-Feuilleton über Derrida geschrieben hat, ist überraschend brauchbar. Möglicherweise aber nur für jemanden, der sich schon mal mit Derrida beschäftigt hat.
Sie fordern Notwendigkeit bei einem philosophischen Ansatz ein, Martin?! Das nehmen Sie sofort zurück, sonst schicke ich meine Sekundanten.
Außerdem kann Freund Jacques wenig dafür, dass ausgerechnet das Schlagwort “Dekonstruktion” das Bleibende seiner Theorien geworden ist. Steinfeld schreibt zu ihm unter anderem: “Die Idee, dass jemand in seinem Denken interessant sein kann, auch wenn er nicht Recht haben muss, ist im Dekonstruktivismus stark und prinzipiell geworden.”
Ein sich ständig veränderndes Spiel von Bedeutungen ist das Ergebnis des Lesens nach und von Derrida. Dieses Lesen verweigert den Schlusspunkt, das Ankommen. Es ist nicht leicht, diese Spannung auszuhalten.
Der Vorwurf, ihre Theorien träfen in erster Linie auf die eigenen Texte zu, ist so alt wie die erste Poetik. Na und?
Angreifen und krtisieren lassen sich Derridas Ideen an vielen Stellen. Für mich lag darin sogar der eigentliche Gewinn. Daraus habe ich mir meine Werkzeuge gebastelt.
Ich hoffe sehr, dass es weiter Menschen gibt, die so hartnäckig theoretisch forschen und sich einen Teufel um die Anwendbarkeit ihrer Ideen scheren. Denn darin liegt für mich ein Kern des kulturellen Schaffens.
11. Oktober 2004 um 11:41
Okay, Frau Kaltmasell, ich nehme zurück, sicher ist sicher. Das war das schwächste Argument und ist wohl auch mehr einfach persönlicher Natur und eines der persönlichen Überforderung – Husserl habe ich ja auch nie kapiert.
Was ich jedoch weiterhin problematisch finde, ist die Deutung in der SZ. Wenn ichs böse lese, dann ist mir “interessant” zu sein doch ein bisserl zu wenig. Dass man nicht “ankommt”, den “Schlusspunkt” nicht setzt hingegen, ist mir durchaus sympathisch. Wiederum nicht nachvollziehen kann ich das dann ererbte “Basteln von Werkzeugen”, das, wenn ich es erneut böse lese, zum Systematischen führt, zu eben dieser Praxis, die Sie, wofür Sie meine ungeteilte Zustimmung erhalten, im letzten Absatz aushebeln. Dieses Denken, was anregt, was sich in Zustimmung und Ablehnung, in Zuspitzung und Auf- und Ausweichung die Bahnen jeweils neu sucht. Nicht als Larifari aber im steten Experiment mit ungewissen Ergebnissen und daher mit der Überraschung und dem Erstaunen und dem Entdeckertum aus Naivität und Selbstkritik.
Oder so ähnlich.
11. Oktober 2004 um 11:53
Für mich war sicher prägend, dass ich um Derrida echte Uni-Schlachten erlebt habe. Kaum hatte ich 1991/1992 eine Menge um ihn und seine poststrukturalistischen Kumpels gelesen, gedacht, gesprochen, geschrieben – da kam Cambridge daher mit der Verweigerung der Ehrenprofessur, weil Derrida ein Scharlatan sei. Ui! Da war richtig was los. Im Times Literary Supplement gabs dazu hochgelahrte Leserbrief-Schlachten! Ich fühlte mich zum ersten Mal richtig mitten drin.
11. Oktober 2004 um 17:50
Da haben Sie aber was ausgelöst. Jetzt gucke ich doch tatsächlich in alte Klamotten. In einem Buch von 1987 führte Florian Rötzer Gespräche mit einigen franz. Philosophen. Bei Derrida kommen dann die Vorwürfe des Irrationalismus und Mystizismus, die Derrida aber abwehrt. Er sagt zwar: “Dekonstruktion ist keine Technik”, aber sie könne “Regeln, Verfahren, Techniken hervorbringen”. (Da bin ich zwar auch nicht viel schlauer, aber okay).
Ein weiterer Vorwurf betraf, dass er philosophische Texte in literarische ummodelte. Also ein bisschen wie oben am Beispiel Jabès. Auch dagegen verwehrt sich Derrida und gibt den Vorwurf zurück, dass man auf diese Weise Philosophie begrenzt und einengt. Und das nun kann ich sehr gut verstehen, denn dieser Vorwurf traf Adorno schon in den 30er Jahren, als ein Wiener Professor über dessen Habil. gesagt haben soll, das Beste darin sind die Zitate, der Rest sei dumm.
Was mir an diesem Gespräch gefallen hat, war aber auch das Eingeständnis der Unfähigkeit und Inkompetenz in Fragen der “Dekonstruktion” von wissenschaftlichen Texten, von Physik und Mathematik.
Der letzte Vorwurf ist, dass Derrida “Dekonstruktion” zu einer Überwissenschaft mache, die zwar alles zerlegen und kritisieren könne, nicht aber sich selbst. Auch dagegen verwehrt sich Derrida. Alles, was dekonstruktive Verfahren hervorbringt, bleibt natürlich kritisierbar. Rötzer gegenüber antwortet er: “Sie wollen unbedingt, daß diese Sache sich in einen vorgegebenen Raum einordnen läßt. Aber sie ist gerade dasjenige, was sich nicht einordnen läßt.”
Damit hat man im Lehrbetrieb natürlich Probleme. Ich denke, dass aber gerade auch in den letzten Jahren der Ruf Derridas gestiegen ist, zumindest aus meiner Sicht. Langsam wird auch in Deutschlands Landschaft klar, dass Derrida nicht als Mode abgetan werden kann. Dazu gehörte sicher auch sein stärkeres Einmischen in politische Fragestellungen. Auch Habermas, sein ausdrücklicher Kritiker in den 80er Jahren, sah Verbindendes, soweit auch Ausgangspositionen und Perspektiven sich unterschieden haben.
Das mit dem Mittendrinsein, ja, das verstehe ich, in solchen Momenten gehts los.