Archiv für Oktober 2004

Vorspeisenplatte auf Blindisch

Mittwoch, 20. Oktober 2004

Vorspeisenplatte

Blindenschrift-Generator via Lisa Neun

(Kinderkram? Wieso Kinderkram? IHR habt damals Eure Namen auf Elbisch gemalt, nicht ich!)

Nachtrag:
Vorspeisenplatte gestrichelt
(vielen Dank an Stefan!)

Vorspeisenplatte in Strichen

Feiner Tatort

Montag, 18. Oktober 2004

Ein feiner Tatort („Herzversagen“) war das gestern. Ich genoss es, dass es nach langem mal wieder um banale Morde an alten Frauen ging, und mir gefielen die Alltagsdetails der Polizeiarbeit. Die Routinefrage „wo waren Sie zur Tatzeit?“ zum Beispiel wurde tatsächlich routiniert gestellt und aufgefasst. Und als sie den Täter hatten, genügte ein Stichwort und er gestand in aller Gemütsruhe. Weil es doch eh bloß alte Menschen waren – ohnehin ein gutes Thema. Die Kamera hätte ein bisschen stiller halten können; ich mag das gar nicht, wenn ohne Not um einen Schaupieler im Kreis gefahren wird.

Vielleicht schaue ich ja einfach zu vielen amerikanischen Serien-Mist wie CSI und Criminal Intent an, dass mir angegammelte Büros und nüchternes Recherchieren in kleinen Schritten ohne Gefühlsausbrüche schon unkonventionell erscheinen.

Zudem mag ich diesen großen knochigen Frauentypus mit schmalen Lippen um den großen Mund. Auch wenn mir als Beispiele nur Maria Furtwängler und eben die zudem hinreißend sperrige Andrea Sawatzki von gestern einfallen.

Schicke Party

Sonntag, 17. Oktober 2004

Ich wusste schon vorher, dass ich absolut fehl am Platz sein würde, aber ich mag Partys und hatte mir außerdem ausgerechnet, dass ich eine Menge schräger Eindrücke würde sammeln können. Die Gastgeberin, eine meiner ehemaligen Chefinnen aus der Münchener Agenturszene, hatte meine derzeitige berufliche Stellung vielleicht überschätzt – warum sonst hätte sie mich eingeladen, nachdem wir uns fast drei Jahre nicht mehr gesehen hatten, zusammen mit schillernden Chefredakteuren, Agenturinhaberinnen, Dotcom-Marketingchefs und Lifestyle-Journalistinnen in Festanstellung? Angesichts der professionell gestalteten und gedruckten Einladung zu dieser Privatfeier, die neben einem Gimmick (Armbändel in Säuglingsstation-Anmutung) die vollständige Gästeliste enthielt (?), schwebte mir als Ergebnis ein gehässiger Bericht für die Vorspeisenplatte vor.

Genau sowas bekam die Gaeste - allerdings silberfarben.

Es war dann aber gar nicht schlimm. Ich traf mich voher zum Aufwärmen mit einer ebenfalls eingeladenen Freundin in der Bar des Hotels Bayerischer Hof. Zur höchst schicken zweigeschoßigen Wohnung am Gärtnerplatz spazierten wir durch abendliche Touristengruppen quer über Marienplatz und Viktualienmarkt. Die zierliche Gastgeberin empfing uns in einem bleigrauen Eisprinzessinnen-Kleid, das sie mit einem schwarzen Shirt und schwarzen Strumpfhosen zum Zille-Hinterhof-Look kombiniert hatte. Die nächsten Stunden nutzte ich, um mich mit meiner Freundin, die ich selten sehe, ausführlich zu unterhalten. Für schräge Eindrücke hätte ich mich an andere wenden müssen. Eher nebenbei lästerten wir über Anwesende (von denen ich genau einen vom Sehen kannte, zumindest konnte meine Freundin bei 30 Prozent der anderen mit Informationen aushelfen), bemerkten, dass hübsche junge Männer gerne mal wie Schaufensterpuppen aussehen, spitze Schuhe immer noch die Damenfüße dominieren, dass aber flache hochschaftige Stiefel zu kurzen Röcken aufholen. Als nach Mitternacht die Musik (vom iBook) so laut gestellt wurde, dass Unterhaltung nur unter nachhaltiger Gefährdung der Stimmbänder möglich war, tanzten wir eine Zeit lang.

Erwähnenswert ist vielleicht der alternde (na gut: gealterte) Agenturbesitzer, der herumfotografierte und sich mehrmals in unser Zweiergespräch einschaltete, indem er fragte: „Um was geht’s?“ (einmal aus Versehen ehrlich geantwortet: „Um den Selbstmord eines ganz jungen, psyschisch schwer kranken Mannes.“ Reaktion: „Ah, ich befasse mich für einen neuen Kunden gerade mit Kindesmissbrauch, das ist schwer genug. Da kann ich das Thema jetzt nicht auch noch.“ Und weg war er.)
Dann die noch junge Schauspielerin, die seit über zehn Jahren vielversprechend ist. Die sich zu lateinamerikanischer Musik ein wenig eurhythmisch bewegte, mitten zwischen tanzenden Menschen stehen blieb und wie gebannt auf die Filmprojektion auf der Wand starrte (ich erkannte Szenen aus Romeo and Juliet (1996) und Kill Bill).

Das war’s dann schon.

54. Danced with a stranger in a foreign country

Freitag, 15. Oktober 2004

Oh ja, diese Liste der 200 Sachen, die man mal gemacht haben könnte, ist sehr inspirierend. Zum Punkt 54. habe ich sogar ein Foto.

Silvester 1979 verbrachten wir bei meiner Tante Barbara in Italien, in einem elenden Kaff, das Mussolini den pontinischen Sümpfen abringen hatte lassen.

Silvester 1979

Ich kann mich an wenig erinnern. Die Weihnachtstage waren wunderbar mild gewesen, aber ich wusste wenig mit mir anzufangen. Ich fühlte mich ohnehin nicht wohl, so am falschen Ende der sich anbahnenden Pubertät, unter all den angeheirateten Italienern, die ich nicht verstand und die mir eher unsympathisch waren.

Am Silvesterabend machten sich alle fein, die aus Sizilien stammende italienische Verwandtschaft kam zum Feiern ins Haus, es wurde vermutlich viel gegessen. Und dann begannen Musik und Tanz.

Als mich ein Bruder meines Onkels zum Tanzen aufforderte („auffordern“ hat den Kern der Sache selten so genau getroffen), denn ich sei doch jetzt schon ein junges Mädchen, wehrte ich mich erst. Doch gute und strenge Erziehung lässt sich nicht lange unterdrücken, und so folgte ich dem Mann auf die freigeräumte Tanzfläche. Es war furchtbar, daran erinnere ich mich noch sehr gut. Ich hatte keine Ahnung, welche Bewegungen von mir verlangt waren, fühlte mich wie der letzte Trampel. Das gezischte Coaching meiner Mutter von der Seitenlinie aus („Hör doch einfach auf die Musik!“, „Lass dich halt führen!“, „Sperr dich doch nicht so!“) verstärkten das Gefühl kompletten Versagens. Zumindest ließ man mich für den Rest der Nacht mit Tanzen in Ruhe.

Vier Jahre später gehörten mein Tanzpartner Robert und ich zu den leidenschaftlichsten Standardtänzern der Tanzschule Fischer. Trotzdem? Deshalb?

Auf meinem Weg in die Arbeit – 3: Unrast

Freitag, 15. Oktober 2004

Die Fenster eines ICE haben Jalousien. Ihre Seitenränder verschwinden im Fensterrahmen und werden von feinen Drahtseilen geführt.

Heute setzte ich mich neben einen kräftigen Mann mit Kopfhörern, der in den ersten zehn Minuten der Zugfahrt nacheinander:
– mit den Fingern die Jalousie-Seile schnalzen ließ
– laut durch den Mund schnaufte
– seine Schuhe auszog
– das Netz an den Rückenlehnen der Vordersitze schnalzen ließ
– unmelodiös summte
– etwa zehn Mal schnell mit der flachen Hand auf die Armlehne klopfte
– seine Rückenlehne ganz nach hinten neigte
– an den Radioknöpfen in seiner Armlehne fummelte
– die Kopfhörer absetzte
– sein Bahnticket aus der Reisetasche zu seinen Füßen kramt, laut raschelnd darin herumblätterte
– laut durch die Nase schnaufte
– das Bahnticket wieder zusammenfaltete und in das Netz vor ihm steckte
– seine Rückenlehne ganz aufrecht stellte
– wortlos aufstand und über mich kletterte
– strumpfsockig auf dem Gang nach hinten verschwand.

Bis ich eine halbe Stunde später ausstieg, sah ich ihn nicht wieder.

Pet Hates – Sprache

Freitag, 15. Oktober 2004

Wer Sprache liebt und in einer Lokalredaktion arbeitet, legt sehr bald – im Geist oder real – Hasslisten bestimmter, unausweichlich wiederkehrender Formulierungen an. Ich habe diese Liste auch nach meiner Zeit in Lokalredaktionen kontinuierlich erweitert. Heute zum Beispiel um:

– etwas „nicht vorenthalten wollen“, wie in
„Es gibt Neuigkeiten, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen.“ (Anschreiben zu einem Newsletter)

– „sich nicht nehmen lassen“, wie in
„Auch der Bürgermeister ließ es sich nicht nehmen, zu den Klängen der Blue Sky Band das Tanzbein zu schwingen.“ (Lokalbericht Feuerwehrfest)

Geschwungene Tanzbeine gehören zu den Gründungsmitgliedern dieser Hassliste, die übrigens nur konkrete Wörter und Formulierungen enthält, keine Regeln oder Gruppen. Denn jedes Klischee kann in den Händen eines Meisters (!) Funktion und Leben erhalten.

Literaturtheorie in Italien

Donnerstag, 14. Oktober 2004

Elle erzählt von einem neapolitanischen Seminar zu zweit.

Und ich muss daran denken, wie ich seinerzeit in Swansea fassungslos vor den drei Regalen stand, die in der Uni-Bibliothek den gesamten Bestand zu Englischer Literaturwissenschaft enthielten – aber ein Seminar Postmodern American Poetry zu sechst genießen konnte. Dozent war ein schmächtiger jugendlicher Albino mit französischem Akzent, der so wenig sah, dass er die Gedichte auf seinem Schoß immer mit einer Lupe las und erst registrierte, wer von uns fünfen bereits im Zimmer war, wenn er unsere Stimme hörte.