Archiv für Oktober 2004

Jacques Derrida ist gestern gestorben

Sonntag, 10. Oktober 2004

Ich kannte ihn nur aus der Literaturtheorie. Derridas dekonstruktive Lese-Ansätze führen zu Aussagen über die Struktur von Sprache, Mechanismen der Rhetorik, Gedanken-Gewebe – viel eher als zu neuen Interpretationen. Sein Off Grammatology hat mich im Endeffekt erst zur Reader Response Theory geführt –weil ich das von ihm beschriebene play of meaning (das oft als Beliebigkeit von Interpretation missverstanden wurde) im Rezipienten verankert sehe.

Und jetzt bin ich höllisch gespannt, wie all die Nachrufe in den Feuilletons seine komplexen Theorien versuchen wiederzugeben. Das Prägen des Begriffs „Dekonstruktion“ war ja eher Zufall. Allerdings scheint sich das Wort im Deutschen ohnehin als Synonym für „Demontage“ zu etablieren und den Bezug zu Derridas Theorie zu verlieren.

Vor der Erfindung der Übersetzungssoftware

Samstag, 9. Oktober 2004

„Mein Luftkissenboot ist voller Aale“ – Herr Rau hat herausgefunden, welches Wörterbuch das gewesen sein muss.

PR-Schicksen unter sich

Samstag, 9. Oktober 2004

Wenn sich eine Marketingleiterin, eine Pressesprecherin und eine Agenturchefin (die sich vor Jahren in einer PR-Agentur als Trainee, Account Director, Geschäftsführerin kennenlernten) einen leckeren Freitagabend machen, kann das lustig sein. Und dazu führen, dass die Marketingleiterin einen der wenigen PR-Witze auspackt:

Moses führt sein Volk durch die Wüste, die Verfolger im Nacken. Er kommt ans Rote Meer und bleibt ratlos davor stehen. „Was soll ich bloß machen“, fragt er seinen PR-Berater. Der überlegt kurz: „Weißt du was, am besten teilst du das Meer und führst dein Volk einfach durch.“ Moses ist wenig begeistert: „Das geht doch gar nicht!“ Meint der PR-Berater: „Aber wenn du’s schaffst, kriegst du zehn Seiten im Alten Testament!“

Die fünf Sinne

Freitag, 8. Oktober 2004

1. Seeing: What’s the most beautiful piece of artwork that you’ve ever seen in person? Where was it, and when? Why does it stand out in your mind?

Legen wir “beautiful” mal sehr weit aus, dann wären das für mich
The Cholmondeley Ladies

Als ich vor fast zehn Jahren das erste mal in der Londoner Tate Gallery war, wollte ich chronologisch vorgehen. Ich begann mit dem Saal, der Kunst aus den Zeiten der Stuarts und Tudors präsentierte. Gleich beim allerersten Bild blieb ich hängen, bei diesen beiden filigran auf Holz gemalten Damen. Ich ging auch so schnell nicht mehr weg. Und ich weiß bis heute, wo ein Druck dieses Bildes in meiner Wohnung hängt, nicht so recht warum. Die starre Haltung, die dennoch so viel Energie ausstrahlt? Der ungewöhnliche Schauplatz Bett? Die beiden jungen Frauen in neuer Rolle? Dass ich das Bild von Weitem schön finde, bei näherer Betrachtung aber immer wieder neue Details entdecke? Dass man den Namen des Bildes komplett anders ausspricht, als man annehmen würde?

Ich hätte ja eigentlich Mujeres de Sepúlveda (vom politisch umstrittenen Ignácio Zuloaga) gerufen, das ich auch deshalb liebe, weil es mein Lieblingsspanien im Hintergrund zeigt. Aber das kenne ich nur aus Büchern. Das Original hängt im Rathaus der baskischen Grenzstadt Irún – wann komme ich da schon zufällig vorbei?

2. Hearing: How would you describe the sound of your voice? When it’s played back for you, do you like the sound of it? Do you feel that your voice is similar to anyone else’s?

Von innen hört sich meine Stimme eher dunkel und warm an, von außen enttäuschend nasal. Sie ist laut und tragend, aber nicht besonders angenehm. Je älter ich werde, umso mehr klinge ich wie meine Mutter.

3. Tasting: Are there any foods or beverages that most people seem to like, but you just don’t seem to have a taste for?

Rhabarber. Das ist wirklich seltsam, da ich sonst keinerlei Empfindlichkeiten bei Nahrung habe und mir große Neugier leisten kann. Doch Saures mag ich nicht besonders, und am wenigsten die Säure von Rhabarber. Dann auch noch diese leicht schleimigen Fäden – blä.

4. Touching: Would you consider yourself a “touchy-feely” person, or do you prefer staying within your own personal “zone” most of the time? Do you often give/receive hugs, offer handshakes, or greet others with a kiss on the cheek?

Einerseits, andererseits. Als typische Mitteleuropäerin habe ich ganz gern mein eigenes Territorium und vermeide auch in Bahn und Flugzeug den physischen Kontakt mit Nachbarn. Doch im intensiven Gespräch rede ich viel mit den Händen und tippe meinen Gesprächspartner schon mal an. Und wenn ich jemanden gern mag, mich über eine Begegnung sehr freue, dann gibt’s zur Begrüßung schon mal Ganzkörpereinsatz. Oberflächliches Bussi Bussi kann ich auch – schließlich bin ich spanisch/polnisch groß geworden -, doch die Initiative ergreife ich fast nie.

5. Smelling: Do you wear perfume/cologne? What kind? Do you have a particular favorite? What fragrances do you tend to prefer?

Ja, ich liebe Parfüms. Ich bevorzuge schwere, aber wenig süße Düfte im Winter (mein Standard seit 15 Jahren ist Scherrer 2), Blumiges ohne Zitrus im Sommer (wechselnd, in den vergangenen beiden Sommern war es der gute-Laune-Duft Esprit). Ob ich mich morgens (sehr vorsichtig) parfümiere oder nicht, hängt aber von meiner Tageslaune ab.

Ich finde sehr selten neue Düfte für mich. In der Parfümerie schnuppere ich zunächst an der Flasche (80 Prozent bäh), bei Gefallen lasse ich den Duft auf ein Kärtchen sprühen, das ich in die Handtasche stecke. So rieche ich ihn immer wieder beim Öffnen der Tasche. In 70 Prozent der Fälle finde ich ihn nach kurzer Zeit unangenehm. Bei den restlichen 30 Prozent lasse ich ihn mir auf den Unterarm aufsprühen und schnuppere in den darauf folgenden Stunden, wie er sich in Verbindung mit meinem Eigengeruch entwickelt. In fast alles Fällen sieht man mich bereits nach 30 Minuten am nächsten Waschbecken stehen und die Unterarme mit viel Wasser von Parfüm befreien. Der einzige Duft, der diesen Test in den letzten Jahren überstanden hat, war Hiris von Hermes. Doch selbst nach dem ist mir höchstens einmal im Monat.

via Anke Gröner

Belehrung

Donnerstag, 7. Oktober 2004

Lyssa dokumentiert eine Beobachtung, die so wunderbar typisch deutsch ist, wie sie in England nie passieren könnte (zur britischen Abneigung gegen „making a fuss“ bitte bei Eurotrash lesen).

Das erinnerte mich zum einen an den Patienten gestern im Wartezimmer meines Orthopäden, der mit Argusaugen (und Argos hatte mindestens 100 am ganzen Leib) darüber wachte, dass die Reihenfolge der Patienten an der Anmeldung eingehalten wurde. Der jeden Neuankömmling anbellte: „Wir warten auch!“ und jeden Versuch, das unbesetzte Anmeldezimmer zu betreten, verhinderte – lautstark und notfalls mit Hilfe seiner Krücken. Dabei war er gar nicht mal alt. Genauso typisch deutsch ist natürlich, dass ich diesen Aufpasser geheuchelt freundlich fragte, ob er in der Arztpraxis als Hausmeister angestellt sei und damit einen Wutanfall auslöste. Ebenfalls „making a fuss“.

Zum anderen fiel mir eine Geschichte aus meiner Volontärszeit ein. Mein hagerer Verleger führte Zeitung und Druckhaus gnadenlos und diktatorisch („patriarchisch“ hätte zu viel Fürsorge für seine Angestellten impliziert). Eines Tages hing in beiden Aufzügen des Verlagshauses ein gedruckter A4-Zettel in Klarsichtfolie:
Rauchen
im Aufzug
verboten

Am zweiten Tag stand darunter – sauber, klein und handgeschrieben:
(die Internatsleitung)

Am dritten Tag waren die Zettel weg. Ich und die meisten Kollegen waren sich sicher, dass der ebenso hagere aber kettenrauchende Feuilleton-Chef dahinter stand. Der kurz darauf wegen Renitenz ohnehin rausflog, Redaktionsverbot bekam und fürderhin seine Theaterbesprechungen in der Technik ein Geschoß unter dem Redaktionsstockwerk verfasste. (Jajaja, irgendwann packe ich die Redaktionsgeschichten schon noch aus.)

ste lesen

Mittwoch, 6. Oktober 2004

z.B. „l’isola“: „nichts zum essen ausser muscheln oder kokosnuesse, no fisch, no andere tiere! alle verhungern und streiten sich.“

z.B. „corpo“: „wenn man nur roecke oder badeschlappen an hat, denkt der koerper das er platz hat und verbreitet sich…“

z.B. „Ballerine“: „mit turnschuen (habe immer gedacht die eissen tonschuen!!!) sind am abend meinen fuessen gekocht!“

alles bei ste, deren Blog auf jeden Fall unter “süchtig machend” fällt.

Wiedersehen, einseitig

Mittwoch, 6. Oktober 2004

Gestern beim Fernsehen an einem Anblick hängen geblieben: Moment, das ist doch. Ist das nicht? Aber ja, das ist sie! Und schon tut sich die Pandora-Büchse mit Erinnerungen auf.

Sie war 1986 der jüngste Neuzugang im Ensemble des Stadttheaters, frisch von der Schauspielschule in Graz, und ich konnte mich von ihrem Anblick kaum losreißen. Anfang 20, sehr schlank mit breiten Schultern, großem Gesicht, klaren Augen und scharfem Blick, langem und enorm vielem dunkelblonden Haar. Sie strahlte ungeheure Kraft und Jugend aus, war für mich eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte.

Ich war nach dem Abitur frisch Zeitungsvolontärin geworden, bekam mein erstes Monatsgehalt, wohnte in der ersten eigenen Wohnung, hatte eine Liebesbeziehung, fühlte mich wie die Königin der Welt. Wir begegneten uns hin und wieder im Theater-Umfeld und stellten fest, dass ihr Anfängerinnen-Verdienst am Theater nicht höher lag als mein Volontärsgehalt. Ich sah sie auf Proben und in mindestens drei Aufführungen der Inszenierung von Lorcas Bernarda Alba von Frank Helmund. Sie spielte die Adela, so atemlos und trotzig und jung.

Doch ich stellte fest, dass ich das Theater nur vom Zuschauerraum aus lieben konnte, ging studieren, verlor sie aus den Augen. Hin und wieder dachte ich an ihr Leuchten und ihre Kraft. Vor ein paar Jahren recherchierte ich nach ihrem Verbleib, fand wenige Spuren an Theatern.

Und gestern, fast 20 Jahre nachdem ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie auf dem Fernseh-Bildschirm: Ulrike Knospe. In der Rolle der gestörten Ehefrau eines plastischen Chirurgen in einer fragwürdigen RTL-Fernsehserie (also eher Martirio als Adela). Älter, die Haare schulterlang und rötlich gefärbt. Erst als kurz ihre kraftvollen Hände ins Bild kamen, erkannte ich sie wirklich wieder. Dann weiß ich ja, wo ich sie Dienstagabends anschauen kann.