Mitten im Emergency Room-Marathon, den ich gestern nur unterbrach, um das Fernseh-Sofa gegen den Kinosessel zu tauschen (Ocean’s Twelve, Näheres bei Anke Gröner). Gestern Abend war ich dann beim Zusatzmaterial zur ersten Staffel angelangt und erfuhr
– dass ER ein Senkrechtstarter war und den damaligen TV-Spitzenreiter im Weißkittel, Chicago Hope, innerhalb weniger Folgen überholte.
– dass die Pilotfolge in einer eben geschlossenen alten Unfallstation in Los Angeles gedreht wurde. Der veraltete und etwas heruntergekommene Gesamteindruck samt seltsamer Bodenfliesen wurde beim Nachbau im Studio übernommen.
– dass die Kamerfahrten beeinflusst sind von den unregelmäßigen Bewegungen der Rollen an den fahrbaren Tragbahren (wie heißt das auf Deutsch? englisch ist es gurney).
– dass Noah Wyle, der Darsteller des John Carter, auch Jahre nach dem Dreh den langen medizinischen Wortschwall aufsagen kann, mit dem er Dr. Benton seinen ersten Fall vorstellte.
– dass die Darsteller so konsequent ganz natürlich wenig geschminkt wurden, dass Julianna Marguiles (Carol Hathaway) im Interview (volles Make-up) irrealer wirkt als in der Serie.
– dass Clooney als Dr. Ross ständig mit gesenktem Kopf spielt (was dazu beiträgt, dass er auf mich so unsympathisch wirkt), weil er seinen komplizierten Text auf den blauen Betttüchern der Bahren notierte.
– dass Sherry Stringfield (Dr. Lewis) im Interview nicht mal halb so intelligent wirkt wie ihre Serienfigur, unter anderem weil sie als jedes dritte Wort “like” sagt.
– dass mein Eindruck richtig war: In der ersten Staffel gibt es sehr viel mehr Außenaufnahmen in Chicago als in den späteren Folgen. Auch den Grund dafür hatte ich richtig eingeschätzt: Beim Dreh der ersten Folgen konnte die Crew unerkannt irgendwo aufbauen und drehen. Ab der achten Folge behinderten Tausende von Fans die Arbeit.
– dass jede Szene in den Behandlungsräumen bis ins Detail choreographiert ist. Der technical advisor führt ein Notizbuch, in dem rechts die Drehbuchseite zu sehen ist und links in vielen Spalten genau vermerkt ist, wer in welchem Moment wo genau ist und welche Bewegungen ausführt. Ich stelle mir die Dreharbeiten höllisch vor, zumal ER ja mit ungewöhnlich langen Kamerafahrten arbeitet.
Außerdem ist mir klar geworden, warum ich vom ersten Sehen an auf ER angesprungen bin: Ich fühlte mich gefordert. Die Informationen sind so schnell und tief, dass ich nicht mal weggucken kann, wenn ich am Ball der Handlung bleiben will. Sonst habe ich ja beim Fernsehen gerne eine Handarbeit auf dem Schoß oder das Laptop im Augenwinkel; das geht bei ER nicht. Selbst die Geschichten werden nur in Bruchstücken erzählt, die ich als Zuschauerin selbst zusammenfügen muss. Im englischen Original, gebe ich zu, bekomme ich bei einem Drittel der Patienten nicht mit, was ihnen eigentlich fehlt. Und freue mich deshalb schon aufs nächste Anschauen.
Zudem der realistische Erzählduktus der Serie: Den medizinischen Realismus kann ich ja nicht beurteilen, aber ich fand es angenehm lebensnah, dass fast keine der Patientengeschichten zu Ende geführt wird. Wie es halt in einer Unfallstation ist, und wie es im Leben ist. Man blickt durch eine Begegnung auf den Lebensausschnitt eines Menschen, dann ist er wieder weg. Und fast nie erfährt man, was vorher war, was danach kam.
Die Authentizität des medizinischen Hintergrunds haben mir Mediziner schon mehrfach bestätigt. Ein befreundeter Johanniter segnete auch die Abläufe der Unfallstation als realistisch ab. Der Unterschied zu den Münchener Unfallstationen, meinte er, sei allerdings das Tempo. Wenn er mit einem Unfallopfer an eine Notaufnahme komme, wuselten keineswegs Heerscharen von Klinikpersonal um ihn herum, schlügen keine Türen hektisch, verfalle niemand in Laufschritt. Eher schon blicke der Mensch am Empfang geruhsam auf: „Was hamma denn?“ Dann werde ebenso geruhsam nach fahrbarer Tragbahre und Behandlungsmöglichkeit gesucht.