Auf meinem Weg in Arbeit – 15: Beim Zeitunglesen
Freitag, 11. Februar 2005 um 9:27Wenn ich ganz viel Geld übrig hätte, würde ich nicht in Kunst als Spekulationsobjekt investieren, sondern Stipendien für Kunsthistoriken und Kunsthistoriker vergeben.
Ich merke, dass ich nicht mehr jung bin, wenn ich die Models auf den aktuellen New Yorker Modeschauen durch die Bank für 12 bis 15 Jahre alt halte.
Auch gemerkt, dass ich den Fotografen Martin Parr seit Jahren im Auge habe. Seit ich mal eine Fernseh-Doku über Magnum sah, in der die Filmkamera die Fotografier-Situationen zeigte, aus dem Off kommentiert vom Fotografen, und dann die resultierenden Fotos. Martin Parr war da gerade für Think of England bei seiner Serie wie-sich-Engländer-und Engländerinnen-herausputzen: mit Tätowierungen, großen Plastikohrclips, toupierten Dauerwellen. (Eine meiner Lieblingsserien: Brighton in den 80ern.) Bis heute begeistert mich die fotografische Demut des Magnum-Konzepts.
Was sagt es über mein Fernseh-Verhalten aus, dass ich noch nie dem Jamba-Küken begegnet bin? Vermutlich, dass ich meinen Vorsatz, regelmäßig fernzusehen, und zwar über die Tagesschau hinaus, schon lange gebrochen habe.
Festgestellt, dass ich drei bis fünf Mini-Schirme (passen in die Tasche) pro Jahr verschleiße, unabhängig vom Preis. Der edelste hielt vorletztes Jahr bis genau zehn Meter hinterm Werktor, wo ihn ein Windstoß ergriff und wie ein Blatt Papier zerknüllte. Seither hatte ich einen kleinen Vorrat an Billigstschirmen, deren letzter heute beim Verlassen der Wohnung vom Wind in drei Teile zerfetzt wurde. Deshalb musste auf den letzten Metern in die Arbeit der fertiggelesene Mantelteil der SZ als Schirmersatz dienen.
die Kaltmamsell9 Kommentare zu „Auf meinem Weg in Arbeit – 15: Beim Zeitunglesen“
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11. Februar 2005 um 9:49
Hauptsache, Sie haben das Feuilleton gerettet (obwohl das seit Jahren dem der FAZ hinterherhinkt, seit die sozusagen einen Redakteurs-Ringtausch gemacht haben).
Letztes Jahr sah ich die Parr-Retrospektive in Hamburg. Sehr eindrucksvoll – und liebevoll kuratiert dazu. Viele seiner Bilder sind sozusagen Ken-Loach-Filme als Standbild. Selten herablassend seinen subjects/Objekten gegenüber, gleichzeitig entblößend und doch irgendwie – milde.
11. Februar 2005 um 9:54
Das mit den Schirmen ist wirklich ein Dilemma. Als jahrelanger Berlin-Insasse habe ich tausende Schirme durch des russischen Kontinentalwindes wütende Böen verloren. Nach einem Lernprozess bin ich auf fest aufpressbare Kopfbedeckungen mit breitem Rand umgestiegen. Ich weiß, dass ich der Schirmindustrie damit keinen Gefallen erweise, aber Schirmgerippe, die auf der Warschauer Brücke in die Oberleitungen trudeln sind auch keine Lösung.
Die Kopfbedeckungen erweisen sich sogar beim Rad fahren als praktisch. Obwohl natürlich einhändig fahren bei Sturm einen gewissen spektakulären Touch hat. Besonders mit großen Stockschirmen.
11. Februar 2005 um 23:17
äh, das Radfahren. GROSS, klein, getennt oder zusammen? Neue oder alte Rächtschreibunck?
11. Februar 2005 um 23:41
Also, dieser Martin Parr und diese Zelebrierung der.. “Freizeitfesthaltung des britischen Proletariats” – das ist ja auch eine Masche, die sich langsam totläuft… ich habe nur noch nicht herausgefunden, wie genau ich diese Attitude einschätzen soll: soll ich mich langweilen, ärgern oder was?
Der tausendste Brite in der Freitagabends-Kneipe, im Boys Club oder in Brighton Beach , na ich weiß nicht
12. Februar 2005 um 1:40
Martin Parr macht das schon seit 1972 und nicht, um Sie zu ärgern. Daß es in den letzten Jahren rund um Jürgen Teller, Wolfgang Tillmans, Nan Goldin und letzten Endes auch Parr (Richard Billingham wäre noch zu nennen, der eben wirklich das ist: ein englischer Prolet) einen gewissen Trend gegeben hat, ist noch nicht als “Masche” zu werten. In der Modefotgrafie ist jetzt schon mehr Glamour gefragt (angesichts des eigenen realen Elends, geilen wir uns am realen Elend der Klasse, die gerade eine Stufe unter uns steht, nicht mehr so leicht auf). In ein paar Jahren ist die (bei Parr übrigens sehr kalkulierte) Schnappschuß-Ästhetik wieder out.
Gerade bei Martin Parr, der einen starken sozial-dokumentarischen Ansatz hat, läßt sich aber sehr viel begreifen – über den British Way of Life. Und wenn Sie mal in Manchester oder Glasgow oder irgendwo am Rande Londons in eine britische Arbeiter- oder Mittelklassewohnung gechaut haben, werden Sie sehen, wie aufrichtig/authentisch diese Fotos sind.
(Und nein, ich bin kein Fan von Martin Parrs Ästhetik. ;-))
12. Februar 2005 um 8:33
Der Parr hat ‘ne Ästhetik? Wie passen die Autoportraits da rein? DAS sieht mir nach „Zelebrierung“ aus, nicht die Bilder von überquellenden Einkaufswagen.
Wenn ich mir anschaue, was es in den 80ern sonst so an Fotos gegeben hat, scheint es mir, dass er eher einen Stil geprägt hat als einem hinterher rennt.
Aber mir ist sehr klar, dass meine Begeisterung stark durch meine England-Liebe beeinflusst ist.
12. Februar 2005 um 14:20
Martin Parr hat selbstverständlich eine Ästhetik, die er mit gewissen stilistischen Mitteln umsetzt. Es wäre aber zu einfach, einen Künstler auf eine Sache oder auch nur einen Stil runterbrechen zu wollen (“Aah, Gerhard Richter!” – “Nein, verwackelt!”) – so ist Parrs erfolgreichstes Buch, die Sammlung “Boring Postcards”, ja nicht mit eigenen Sachen bestückt. Die “Autoportraits” liegen da genau zwischen. Ich sehe sie nicht als eitle Zelebrierung (so wie z.B. die Bilder von Terry Richardson) – dann hätte Parr sich vielleicht auch etwas gefälliger präsentiert?!? (man weiß es nicht) – sondern sowohl als Nebenprojekt, einen running gag, als auch einen Seitenarm, der sehr gut in sein Konzept einer künstlerischen Ästhetik paßt.
Parrs Werk kreist um soziales Repräsentieren, Darstellen und (Selbst-)Definition von Status und Klasse. In seinen Filmen hat er z.B. Aussagen von Briten aller Schichten (also nicht nur Arbeiterklasse) “on being British” gesammelt (ich zitierte das in meinem Ausstellungsbericht, den ich da irgendwo verlinkt habe). In den 70ern dokumentierte er stolze Menschen in ihren immer gleichen, im Grunde “schäbigen” Wohnzimmern: Mann, Frau, rachitische Kinder. Später hat er mal eine Interieur-Serie gemacht, “My home is my castle” oder so ähnlich, in der die kitschigen, schäbigen Versuche dokumentiert sind, mittels Styropor-Stuck und ziselierten Steckdosenblenden “aristokratische Klasse und Lebensgefühl” in Mittelschichtswohnungen zu zaubern. Alles, nebst stolzen (und eitlen!) Besitzern, sehr sachlich, unaufgeregt fotografiert (also anders als z.B. Wolfgang Tillmans)
Seine früheste Arbeit von der Uni war ein Fotobuch, bei dem Paare fotografiert und anschließend voneinander getrennt abgebildet worden waren. Aufgabe des Betrachters war es, die richtigen Paare zu finden. Ebenfalls ein recht interessantes Experiment über soziale Konstrukte, Selbstdefinition/-darstellung, Stil, Vorurteile whatever.
In diese Linie passen seine “Autoportraits” ganz gut, finde ich. Mir ist das natürlich zu albern. Festhalten möchte ich aber seine Sachlichkeit (die sich bis in die stoische Miene seiner Autoportraits fortsetzt) oder, sagen wir, seine Mischung aus Affekt und Zuneigung zu seinem subject und der Gewissenhaftigkeit eines Landvermessers. Postmoderne Betrachter erklären das Phänomen Parr natürlich immer mit “Ironie! Ironie!” – aber ich bin mir da nicht einmal sicher.
(Übrigens gab es bei Magnum einen Riesenaufstand, als Parr zum Präsidenten gewählt werden sollte. Cartier-Bresson, so munkelt man, war not amused.)
So gesehen, ist Parr dann doch ein Künstler mit einer seit 30 Jahren sehr, sehr strikten Ästhetik. Kennen Sie eigentlich die von ihm herausgegeben Bände über die “Butlin’s-Ferienparadiese” aus den 50er/60er-Jahren? Mit Fotografien von John Hynde? Das sind wirkliche Knaller.
12. Februar 2005 um 15:00
Vielen Dank, lieber kid, jetzt weiß ich auch, was Sie mit “Ästhetik” meinen. Ich hatte in Parrs Bildern – wie Sie ja auch – vor allem die Zuneigung zum Anblick gesehen; nicht mal bei den “Bored Couples” hatte ich den Eindruck, dass er sich über irgendwen lustig macht. Nein, ich sehe da keine Ironie, sondern Anteilnahme. (Ein bisschen wie Gerhard Polt.) “Landvermesser” gefällt mir – ist das nicht auch der Kern von Magnum?
Albern mag ich schon auch, für die Autoportraits, habe ich mal gelesen, ist er gezielt durch alltägliche Fotostudios getingelt.
Nein, die Ferienparadiese kenne ich nicht. Ich mache mich gleich mal auf die Suche.
13. Februar 2005 um 13:34
Hier ein Bild von einem der Fotografen aus dem Studio von John Hinde (nicht Hynde): http://www.photonet.org.uk/programme/past/butlins/butlins1.html
Auf http://www.martinparr.com gibt es auch so Schätze wie “Bored Couples” und einiges hier angesprochenes. Sehr skurril, sehr entlarvend.