Die Fabrik
Mittwoch, 30. März 2005Ich behaupte gerne, ich sei ein Fabrikkind und buchstäblich im Schatten der größten Fabrik meiner Geburtsstadt aufgewachsen. Das stimmt nicht ganz, auch wenn es sich gut anhört: Die ersten sieben Lebensjahre verbrachte ich zwar in einem Genossenschafts-Wohnblock dieser Fabrik, aber einen Kilometer von den Werkshallen entfernt. Nur in den ersten beiden dieser Jahre war die Sicht aufs Werkstor unverbaut.
Aber ein Fabrikkind bin ich doch. Mein Vater arbeitete in der Fabrik, Schichtarbeit, als Elektriker in der Instandhaltung. Wenn er Frühschicht hatte, war er weg, bevor ich aufwachte. Meine Mutter war mit ihm aufgestanden und betonte gerne, wie viel mehr sie in der Frühschichtwoche wegschaffte (all die pusselige Hausarbeit, von der sie die Hälfte als bescheuert erkannte, als sie später selbst wieder eine Arbeitsstelle annahm). Wenn mein Vater nachmittags um drei aus der Frühschicht heimkam, hatten wir schon zu Mittag gegessen. Meine Mutter wärmte ihm das Essen nochmal auf oder bereitete seine Portion frisch zu. Dann legte er sich auf dem Sofa im Wohnzimmer „ein Stündchen aufs Ohr“, und meine Mutter, mein Bruder und ich mussten leise sein.
Hatte mein Vater Spätschicht, so schlief er noch, wenn ich das Haus Richtung Schule verließ. Dann aßen wir aber alle zusammen zu Mittag. Bevor er sich mit dem Fahrrad (immer mit dem Fahrrad) auf den Weg zur Arbeit machte, las er meist noch ein wenig Zeitung.
Häusliche Spuren dieses Arbeitertums waren zum einen die dazu nötigen Kleidungsstücke, die meine Mutter immer separat wusch und oft flickte. Blaumann-blau waren sie allerdings nie, die Autofabrik hatte immer schon ihre eigenen Farben; ich erinnere mich an die Epoche der beigen Kittel, dann kamen weinrote, später grüne (Elektriker tragen anscheinend keine Overalls oder Anzüge, sondern eine Art Hausmeisterkittel). Fester Bestandteil der Kluft waren auch Nylon-Socken in fahlen Farben und Mustern, die wohl damals am billigsten waren, zudem einfache karierte Baumwollhemden. Waren gute Hosen oder Hemden unansehnlich geworden, trug mein Vater sie in der Arbeit auf.
Die Arbeitskleidung hatte selbst nach dem Waschen einen typischen Geruch, den ich auf immer mit Fabrik verbinden werde. Es war der Geruch, der mir auch in die Nase zog, wenn ich an der Fabrik vorbeiradelte. Erst als ich vor ein paar Jahren als Kunden einen Hersteller für Zerspan-Maschinen hatte, fand ich die Quelle heraus: So riecht die Wasser-Maschinenöl-Emulsion von Metall bearbeitenden Maschinen.
Eine weitere Spur war die kunstlederne Brotzeittasche meines Vaters, die immer in der Diele stand, wenn er zu Hause war. Sie verströmte ebenfalls durchdringenden Fabrikgeruch. Jetzt wo ich mich erinnere, fällt mir auf, dass es eine ganz normale Aktentasche war, in der mein Vater Kleidung und Brotzeit mitnahm. Eigentlich unpraktisch; ich muss meinen Vater mal fragen, warum er sich nie einen Rucksack oder zumindest eine Tasche mit Schulterriemen dafür zugelegt hat.
Typisch Fabrik ist für mich auch der Lärm der Maschinen. Möglicherweise ist die Arbeit heute durch die fortschreitende Automatisierung leiser, aber bei meinen ersten Ferienjobs in der Fabrik Mitte der 80er toste und rumpelte und schepperte es noch in den Hallen. Am schlimmsten war es im Presswerk, also in der Werkshalle, in der große Metallteile in Form gepresst wurden. Zwar mussten dort alle Ohrstöpsel tragen, doch bei meinem Job am Brotzeitkiosk sollte ich ja die Bestellungen der Leute verstehen. Nach meiner Schicht war ich immer heiser und blöd im Hirn.
Maschinen erzeugten aber auch in allen anderen Werkshallen einen konstanten Lärmpegel, der bei mir Dauerstress verursachte. Kein Wunder, dass mein Vater beim Heimkommen nach der Spätschicht immer erst mal den Fernseher anmachte, um den Lärm aus dem Kopf zu bekommen.
In einer der Granta-Geschichten wird beschrieben, dass sich so mancher Arbeiter gegen die Abstumpfung wehrt, indem er auf den Maschinen Nicht-Berufliches herstellt. Auch dafür kenne ich Beispiele, denn mein Vater brachte regelmäßig Dinge heim, die befreundete Dreher nebenher gemacht hatten. Ein Stück habe ich sogar noch in meiner Küchenschublade: einen massiven Siebzehner aus Messing, der Kronkorken wie von selbst von Flaschen lupft.
Doch mein Vater war kein Bandarbeiter. In der Instandhaltung musste er selbstständig Lösungen für Störungen finden, und das schnell: Der Stillstand einer Maschine bedeutete immer Produktionsausfall und musste so kurz wie möglich gehalten werden. Tüchtig wie er war, hatte er bald Personalverantwortung und dirigierte seinen eigenen Trupp aus Instandhaltern; er war „Gruppenmeister“.
Eine Fabrikarbeiterin wie aus dem Bilderbuch hingegen war meine polnische Oma, aber in einer anderen Fabrik der Stadt, bei „Däläfungen“ (= Telefunken). Sie arbeitete Akkord, von dem sie jammerte, der mache einen kaputt (der einzige deutsche Reim, den sie sich merken konnte: „Akkord is te Mord“). Sie interessierte sich nicht, wofür die Teile gedacht waren, die aus ihrer Stanze purzelten. Sie wusste nicht mal genau, was in dieser Fabrik hergestellt wurde. Sie jammerte unentwegt, aber fragte nicht, wer wozu welchen Akkord vorgab – und genauso wenig nach Möglichkeiten, ihre Arbeitssituation zu verbessern. Die Frau hat sich ihr ganzes Leben nie gegen irgend etwas gewehrt.
Es stand immer außer Frage, dass ich nie in einer dieser Fabriken arbeiten würde. Zwar gaben meine Eltern mir keinen Beruf vor, keinen Wunsch, was ich mal werden sollte. Doch es war unausgesprochen klar, dass ich keine Fabrikarbeiterin würde. Dass ich auch niemals in irgend einer anderen Position in diesen Fabriken würde arbeiten wollen, war dann meine ureigene Abneigung nach diversen Ferienjobs.
Und doch bin ich in einer Fabrik gelandet. Schon in den PR-Agenturen, in denen ich arbeitete, schoss ich mich immer mehr auf Fertigungsprozesse in der Industrie ein, auf Automatisierung, Beschaffungsketten. Ich verstand nicht so recht, dass das allgemeine Interesse gering war, wie die Dinge gemacht werden, die uns umgeben. Oder welche komplexen Überlegungen es erfordert, Dinge in Serie zu produzieren.
Fabrikgeschichten erzählen – das ist jetzt im Grunde mein Job.