Mal wieder einen meiner Lieblingsfilme gesehen: Good Will Hunting. (Ich habe eine große Schwäche für das Motiv des unerkannten Genies.) Und plötzlich wurde mir ein Automatismus bewusst, den ich schon immer habe, seit ich denken kann: Wenn mir eine Geschichte (Literatur, Film, Zeitung) gefällt, stelle ich sie mir mit umgekehrten Geschlechtern vor. Manchmal ganz, meist einzelne Szenen. Fast immer wird die Geschichte schlagartig grotesk und unrealistisch. Ich glaube, der Trick fiel mir mal als Gradmesser für die Gleichberechtigung der Figuren ein.
Nehmen wir also als Beispiel die Story von Good Will Hunting:
Eine junge Frau (Wilma) ist ein mathematisches Genie. Sie stammt aus der Unterschicht und jobbt als Putzfrau im MIT in Boston. Abends lungert sie mit ihren Trash-Freundinnen in Kneipen und Diskos herum. Eines Nachts löst sie auf einer Tafel an der Uni ein mathematisches Problem im Vorbeigehen.
Bis dahin funktioniert die Geschichte halbwegs.
Die arrogante Leiterin des Lehrstuhls, eine preisgekrönte Mathematikerin, macht sich mit ihrer leicht verhuschten Assistentin auf die Suche nach der Studentin, die die Aufgabe gelöst hat.
Hier bekommen wir ein bisschen Schwierigkeiten. Es ist so ungewöhnlich, in dieser Rolle eine Frau zu sehen, dass wir beim Drehbuchschreiben nicht umhin kämen, ihr Geschlecht und ihren Familienstand zu thematisieren.
Die Genie-Frau Wilma hatte schon mehrfach Probleme mit der Polizei, weil sie zu Gewalttätigkeit neigt. Wie vor kurzem mal wieder, sie muss vor Gericht.
Ja, geht.
Vor Gericht besteht sie darauf, sich selbst zu verteidigen, hält eine leidenschaftliche Grundsatz-Rede über Gesetzlichkeit. Die Richterin ist unbeeindruckt und verurteilt sie zu Jugendhaft.
Das Drehbuch könnte vermutlich nicht darauf verzichten, die Richterin etwas über die Tatsache sagen zu lassen, dass Wilma als Frau gewalttätig ist.
Wilma und ihre Freundinnen mischen sich in einer Harvard-Kneipe unter Studenten und Studentinnen. Eine Studentin plustert sich vor einem ausgesprochen attraktiven jungen Mann auf, unter anderem indem sie große Töne über die jüngste amerikanische Geschichte spuckt.
Sowas gehört zwar zu meinem persönlichen Balzrepertoire (nicht gänzlich erfolglos, übrigens), in einem amerikanischen Film wäre das automatisch eine Slapstick-Einlage.
Wilma zeigt ihr, wo die Bartlin den Most herholt und beschimpft die Balze, sie habe für viel Geld nichts anderes gelernt, als anderer Leute Gedanken nachzuplappern. Der hübsche junge Mann ist schwer beeindruckt und gibt Wilma beim Rausgehen seine Telefonnummer.
Müsste man geschickt aufbauen, damit er nicht als Depp rüberkommt, weil er sie nicht einfach vorher angesprochen hat.
Die Professorin haut Wilma aus dem Gefängnis raus unter der Auflage, dass sie mit ihr Mathe arbeitet und eine Therapie macht.
Wilma nimmt mehrere Therapeutinnen auseinander, indem sie sie persönlich oder fachlich lächerlich macht.
Oh ja, das kann ich mir gut vorstellen.
Mathe-Professorin bittet als letzte Möglichkeit ihre Jugendfreundin Sinead, die am Commuity College Psychologie unterrichtet, um Hilfe. Wilma versucht auch bei Sinead ihre aggressive Tour, doch als sie dabei Sineads an Krebs verstorbenen Mann beleidigt, wird die Psychologin handgreiflich.
Hm, erwartetes Verhalten wäre bei einer Frau sicher der Tränenausbruch, nicht ein einhändiges Würgen.
Ab da funktioniert die Geschichte problemlos mit vertauschten Geschlechtern: Wilma fängt eine Beziehung mit dem hübschen Studenten an, stellt ihn auch ihren groben Freundinnen vor. Als es wirklich ernst wird, stößt sie ihn zurück. Sie öffnet sich der Therapeutin, kann nicht glauben, dass diese ein legendäres Baseballspiel hat sausen lassen, weil ihr der Mann ihres Lebens begegnete (hohum…). Die Mathe-Professorin und die Therapeutin streiten sich darum, was wirklich wichtig ist im Leben und wer welcher was neidet oder nicht.
Wilma bekommt von ihren Freundinnen den Kopf geradegerückt und zum 21. Geburtstag ein schäbiges, selbstgeflicktes Auto geschenkt. Damit fährt sie Richtung Kalifornien zu dem hübschen Studenten.
(Am meisten bestürzt mich im Moment, dass ich mir eben erst dieses Automatismus’ bewusst geworden bin. Ich kenne mich selbst derart garnicht. Erst vor kurzem stolperte ich im Internet über Spuren einer Kommilitonin, mit der ich während des Studiums viel zu tun hatte. Und erst jetzt bemerkte ich, dass ich sie noch nie leiden konnte.)