The Factory
Dienstag, 29. März 2005 um 16:43Endlich wieder eine durch und durch inspirierende Granta-Ausgabe. Die enttäuschende Behandlung des Themas „Film“ war nämlich von einer ebenso faden Ausgabe „Mothers“ gefolgt worden: Hatten die Herausgeber vielleicht einfach noch einen Stapel Geschichten rumliegen gehabt, die endlich mal weg mussten und zufällig alle das Wort „mother“ enthielten?
Diesmal geht es um „The Factory“, und das ganz hervorragend.
Warum die guten Granta-Geschichten ganz besonders gut sind: Sie haben immer einen persönlichen Hintergrund. Isabel Hilton schreibt zum Beispiel über die aktuellen Arbeitsbedingungen in chinesischen Fabriken – und kann das mit einem einzigartigen Rundum-Blick, weil sie vor 30 Jahren in China studiert und gearbeitet hat, dadurch unter anderem Chinesisch spricht. Über 40 Seiten läuft ihre Reportage, illustriert lediglich durch zwei atmosphärische Fotos und eine Landkarte, auf der die Industriezentren Guangdong und Shanghai eingezeichnet sind. Hilton spricht mit ehemaligen Arbeitern der Halbedelstein-Industrie, die sich eine Staublunge geholt haben und dem Tod geweiht sind – ohne Aussicht auf Entschädigung. Sie besucht streikende Textilarbeiterinnen, spricht mit NGOs (non government organizations), aber auch mit den westlichen Kontrolleurinnen beauftragt von großen Markenunternehmen, die bei ihren Überpüfungen von Arbeitsbedingungen Hase und Igel mit den Fabrikbesitzern spielen. Fundiert, mit geschichtlicher Herleitung, unpolemisch, durch und durch glaubwürdig wirkt diese Geschichte – paradoxerweise gerade durch das Fehlen von repräsentativen Zahlen. Statistiken mit besonders wissenschaftlichem Anschein machen mich mittlerweile misstrauisch: Ihnen fehlen immer die detaillierten Mess- und Zählkriterien, die sie wirklich nachprüfbar machen würden. Statt dessen ist Hilton hingegangen zu den Leuten, hat mit ihnen gesprochen, hat sich über viele Wochen selbst einen Eindruck verschafft.
Persönlich ist auch der Artikel von Andrew Martin, der über die Schokolade-Fabriken in Nordengland schreibt. Martin kommt aus York, der Stadt der Fabriken Rowntree (heute Nestlé) und Terry (heute Kraft) – seine ganze Familie hat in diesen Fabriken gearbeitet, hatte das lebenslange Recht, im Fabrikladen umsonst Auschussware zu holen. Er war der erste, der studieren ging. Um endlich mal eine Schokoladenfabrik von innen zu sehen, muss Martin ins nahegelegene Birmingham zu Cadbury’s fahren.
Zum ersten Mal enthält ein Granta-Magazin eine graphic story: Joe Sacco zeichnet einen Cartoon Strip über tschetschenische Flüchtlinge, die in einer ehemaligen Molkerei untergekommen sind.
In “Fancy Lamps” besucht Neil Steinberg zwei Fabriken in Chicago, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Eine Manufaktur höchstwertiger, wenn auch geschmacklich fragwürdiger Tisch- und Stehlampen sowie eine hochmoderne Autofabrik. Er schafft es durch die Beschreibung dieser Besuche, in einfachen Worten die Entwicklungen der letzten 30 Jahre in der industriellen Produktion verständlich zu machen.
Eine weitere wunderbare Geschichte: Liz Jobey schaut sich ein Musterloft an. Es ist Teil der einstmals größten Textilfabrik der Welt im nordenglischen Bradford.
Und dann der Fotograf Alec Soth (Nominee bei Magnum Photos), der in einem kleinen metallverarbeitendem Betrieb in Minnesota fotorafiert hat. Die Geschichten, die diese Fotos erzählen, kenne ich alle. Sie machen mir spätestens klar, wie sehr das die Welt ist, aus der ich komme. Die Welt der Fabriken.
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