Stadtleben
Samstag, 30. April 2005Nach dem nächtlichen Regenguss riecht es draußen verheißungsvoll und frisch. Die Vögel in den Bäumen und Büschen vorm Fenster werden dadurch zu völlig neuen Melodielinien inspiriert und flöten, zwitschern, tschilpen, pfeifen, was die Kehle her gibt. Der Himmel versucht ein kräftiges Blau, muss dazu allerdings erst mal die Wolkenschleier und blassen Ackerfurchenhäufchenwolken abziehen lassen.
Frühlingssamstagmorgen in der großen Stadt. Ich stelle mir vor, wie ich später Einkaufen gehe: Ich werde nach Spargel suchen, vielleicht ist der Spargelstand am Sendlinger Tor von letzter Woche da. Auf dem Viktualienmarkt neue Kartoffeln (bayerisch „Maiserl“, also Mäuschen), Schnittlauch, Dill, Kerbel. Verschiedene Kochschinken, auf jeden Fall inklusive Wacholderschinken. Frisches Brot für tagsüber.
Abgerundet wird das Bild mit dem Niedersetzen in einem Straßencafé. Wie gut es sich trifft, dass ich letzte Woche endlich die Sonnenbrille mit Sehhilfegläsern abgeholt habe, ein bisschen grässliche Kruse-Tom-Top-Gun-Form, aber nicht ganz, weil das Original für mein Breitgesicht zu schmal war, aber immer noch unmodisch genug, dass sie meiner schicken sportlichen Mutter auf keinen Fall gefällt. Gelassen durch die Sonnenbrille auf die Passanten schauen. An meinem Espresso nippen? Hm, der wäre doch so schnell weg, den trinkt man doch eher im Stehen, oder? Also ein Matschiato? Dann stecken die mir am End einen Strohalm rein. Also egal, mit irgend etwas Caffe-haltigem vor mir. Und dann gucken. In der Sonne. Leichthin, selbstverständlich, stadtläufig. Oder doch dabei etwas lesen?
So sähe ich mich eigentlich, an so einem Leben verheißenden Tag. Aber ich hab das noch nie gemacht, das mit dem nach dem Einkaufen noch in ein Café setzen. Ich kenn auch niemand, der das macht, aber ich stell mir das halt so vor, das machen doch die Leute, die ihren Samstag als Stadtbewohner genießen, oder? Ich nie. Weil es mich dann doch eher nach Hause zieht, die sperrigen Einkäufe wegpacken. Die Butter wird doch sonst weich. Und der Spargel wird auch nicht besser, wenn er auf dem Straßencafé-Stuhl neben mir in der Sonne darbt. Überhaupt: Diese mopsige Frau jenseits von frisch, in bequemen Hosen und Burda-Moden-Pulli mit Blockstreifen über dem wuchtigen Busen, spießige Sonnenbrille überm feisten Kinn – die sähe eh nicht nach Sawoa wiwre aus.
Nee, klar ist das meine Sache, was ich mit dem Samstag mache. Aber dieser Verdacht, dass alle anderen so viel mehr draus machen. Ganz von selbst, ganz normal.
Ich bin einfach noch waidwund von der Lektüre von Astrid Paprottas Thriller Mimikry. Zwar hätte man ein wenig am Rhythmus schrauben können, vielleicht zwei Handlungsschlaufen in eine zusammenfassen – im mittleren Teil fühlte sich das Lesen an, als würde ich immer nur wenige Minuten am Stück lesen und käme dadurch nicht rein, obwohl es tatsächlich immer einige Kapitel hintereinander waren. Das ist aber nur minimalste Kritik, das Buch ist insgesamt hervorragend gemacht. Sehr nahe gegangen ist mir halt das Grundmotiv, all diese Leute ohne Leben. Die allein in ihren Wohnungen darben, abends auf dem Sofa sitzen, niemanden haben, keine Freunde, keine Interessen, keine Unternehmungen, keine Erlebnisse. Die böse und neidisch auf all die Menschen schauen, die das können und das haben, Ausflüge, Einladungen, schöne Kleidung, Spaß, Freunde, Einfälle. Und ich habe mich derart würgend, luftabschnürend mit diesen Romangestalten, diesen armen Schweinen, identifiziert. Völlig egal, dass meine Lebenssituation ihrer gar nicht gleicht. Es wird am Grundumstand liegen, dass diese Julias, Martins, Birgits des Romans jeder andere sein wollen, bloß nicht sie selbst. Aber das natürlich nicht können, weil sie überall hin in Zeit und Raum sich selbst mitnehmen müssen.
Eine der Romangestalten führt Tagebuch. Darin schreibt sie ihr Leben auf, nicht wie es ist, sondern wie sie es haben möchte. Sie erfindet sich einen Partner, Freunde, ein – wie sie es empfindet – normales und lebenswertes Leben. Selbstverständlich erinnerte mich das sofort an das Marie-Blog, das wohl für eine ähnliche Gestalt eine ähnliche Funktion hatte. Ich wünschte, diese Art des Weglaufens vor sich selbst würde für mich funktionieren.