Familienalbum – 2: Die Streifentapete
Donnerstag, 7. Juli 2005 um 9:00An sich hatte meine Mutter vorgehabt, das Abitur nachzumachen und dann Innenarchitektur zu studieren. Es kam die große Liebe in Form meines Vaters dazwischen, rasch gefolgt vom Wunsch nach Familiengründung. Eine Verbindung zwischen beiden Plänen war wohl damals unmöglich. Als Innenarchitektin lebte sich meine Mutter seither erst in der eigenen Wohnung, dann im eigenen Haus aus.
Zu den weniger geglückten Einfällen gehörte in den 70ern die Verwendung einer quer gestreiften Tapete in den damals angesagten Farben. Die Wohnzimmerwand, vor der mein Vater und ich da auf dem Foto sitzen, war sehr lang. Nicht nur hatte mein pingeliger Papa beim Tapezieren seine heilige Mühe, das Muster bahnenweise sauber aneinander zu legen. Als wir das Ergebnis besahen, mussten wir uns auch noch an Türrahmen oder Wänden festhalten, weil die Querstreifen zu schwanken schienen und uns beim Anblick schwindelig wurde. Wir hielten das nur wenige Monate aus, dann wurde die Wand einfarbig, kurz bevor wir ohnehin in einen anderen Wohnblock und damit in eine Wohnung mit zwei Kinderzimmern umzogen.
Die Brille, die mein Papa da oben trägt und nur zum Fernsehen und Autofahren brauchte, habe ich inzwischen an mich genommen. Eigentlich wollte ich Gläser in meiner Stärke einsetzen lassen, zögere aber noch, weil das Gestell enorm schwer ist. An den Bademantel erinnere ich mich noch lebhaft, auch daran, dass das Folgemodell aus dunkelbraunem Samtvelour war.
Dem Sofa gegenüber stand der damals nagelneue schwarz/weiß-Fernseher (Telefon gab es erst in der übernächsten Wohnung). Vielleicht guckte sich mein Vater gerade die Sportschau an. Das würde zum einen meine Anwesenheit erklären, denn ich durfte so wenig fernsehen, dass ich jede Gelegenheit nutzte. Zum anderen würde das erklären, dass ich nicht zum Fernseher schaue: Die Sportschau langweilte mich ungemein. Ein Resultat dieser persönlichen Fernsehgeschichte ist, dass ich mich in zahlreichen Sportarten überraschend gut auskenne, obwohl sie mich gar nicht interessieren.
An dem Glastisch vor dem Sofa lernte ich Schummeln beim Memory-Spielen.
die Kaltmamsell12 Kommentare zu „Familienalbum – 2: Die Streifentapete“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
7. Juli 2005 um 10:04
Besonders interessant: das Schuh-Chaos auf dem Boden. Zurueckgelassene Schuhe erzaehlen etwas ueber die vorhergehenden Bewegungen der Protagonisten. Demnach hast Du die Sandalen schnell von Dir geschuettelt, um es Dir richtig gemuetlich zu machen. Die Brille ist sehr gut. Und so Kniestruempfe wie Du hatte ich auch.
Mehr Bilder!!!
7. Juli 2005 um 10:16
Ahh, die Tapete, könnt ich stundenlang davor meditieren.
Meine Mutter ist Innenarchitektin. Ich bin “italiensches Design” und “architektonischen Perfektionismus” geschädigt und liebe “Geschmacklosigkeiten”. Freu mich schon auf die nächsten Fotos!
7. Juli 2005 um 11:04
Haha, Lisa, die Anziehungskraft von Geschmacklosigkeit wird meine Mutter wohl nie kapieren. Glücklicherweise hat sie bereits vor vielen Jahren die Hoffnung aufgegeben, sie könnte mir Geschmack anerziehen und findet es mittlerweile sogar lustig, dass ich regelmäßig mit Kleidung und Einrichtungsgegenständen daher komme, die ich ob ihrer enormen Hässlichkeit liebe.
Lila, gibt es für Kinder etwa eine andere Möglichkeit, Schuhe auszuziehen?
7. Juli 2005 um 11:51
Wunderschönes Bild. Meine Mutter wäre auch gern Innenarchitektin geworden, aber sowas war auf dem Land nicht vorgesehen. Ihre selbständige berufliche Tätigkeit als Engergieberaterin (gibt es sowas heute noch?) fernab vom heimatlichen Hof war schon mehr als skandalös. Deshalb mußte ich die ersten 15 Jahre meines Lebens auf einer Dauerbaustelle verbringen, denn mind. ein Zimmer wurde immer grad umgebaut. Und weil aus Kostengründen fast alles selbst gemacht wurde, dauerte das halt etwas länger.
Was die Brille angeht: Ich hab auch so ein sehr schweres Gestell. Man gewöhnt sich daran, sieht aber beim Abnehmen der Brille etwas … lädiert aus gelegentlich.
7. Juli 2005 um 13:07
Mais oui. Die Magie der schwarzen Hornbrille.
7. Juli 2005 um 21:53
Der hilfreiche Leser Hans hat das Bild überarbeitet. Hier seine Version:
8. Juli 2005 um 0:04
Hans hat es ja echt drauf. Wow.
8. Juli 2005 um 0:45
das war nie und nimmer sportschau. aus solchen augenwinkeln guckt mensch bestenfalls ttt oder dergleichen ….
8. Juli 2005 um 8:28
Besser Querstreifen als Fototapete (war zu der Zeit auch angesagt). Da hat die Mutter wirklich Geschmack bewiesen.
9. Juli 2005 um 1:05
Die überarbeitete Version bringt das Aura-Leuchten des Vaters auf der Tapete wunderbar zum Vorschein. Die Farbgebung erinnert mich an das lila-gelb-orange gehäkelte Dreiecktuch, das meine Mutter mir in jener Zeit auf mein Quengeln hin anfertigte. Ich diskutiere immer noch mit mir, ob es sich um eine der schlimmsten modischen Entgleisungen meiner juvenilen Phase handelte oder ob meine Mutter damit einen Klassiker gefertigt hat, der erst heute zu wahrem Wert gereift ist. Jedenfalls spricht das für die enorme Geschmackstoleranz, die meine Mutter freundicherweise bewiesen hat.
5. März 2006 um 22:24
Sehr cool die Tapete ! Meine Eltern hatten eine Wand in verschiedenen Rottönen mit kreisförmigen Mustern, war damals auch topmodern bis gewagt !
Haarspange und weiße Kniestrümpfe gab’s auch in meinem Fundus….einige Zeit davor gab’s auch noch so Rüschenhosen, die man trug, wenn man Rock trug, ganz neckisch !
18. Juli 2008 um 14:00
Durch einen aktuellen Eintrag bei dir (das Foto mit der Brille) bin ich zu diesem schönen Eintrag gekommen und habe deine Rückerinnerung, die du mit Humor schreibst, sehr gerne gelesen, auch “die Mode” von damals gerne betrachtet.
Quergestreifte Tapete gab es bei mir nie und jetzt wo ich weiß das es einem schwindelig davon wird, bin ich auch froh.
Danke fürs Rückerinnern.