Die Abgründe hehrer Kunst
Dienstag, 26. Juli 2005Gestern auf der Bahnfahrt nach Hause die Lektüre der „SZ am Wochenende“ nachgeholt. Beim Artikel „Grabenkämpfe“ von Stephan Handel über die gesellschaftliche Struktur von Symphonieorchestern sehr oft sehr gelacht und schräge Nachbarsblicke auf mich gezogen.
Zwar habe ich selbst nie in solchen Orchestern gespielt; meine Querflötenkünste brachten mich grade mal in halbscharige Holzbläserquintette und ins Schulorchester. Aber ich kenne viele klassische Musiker und habe mich in den beschriebenen Zirkeln aufgehalten. Über das Gezicke und Gezerre der Literaturwelt liest man ja regelmäßig, die Abgründe hinter den Kulissen der Filmkunst waren bereits selbst Filme wert. Doch Musik, gerade die klassische, ist immer noch mit Heiligenschein und seligem Lächeln umgeben. Buollocks.
Leider, leider gibt es den Text nicht online. Deshalb hier meine Lieblingsstellen:
Wer so wunderbare Musik zustande bringt, so denken die meisten, der wird sicher auch außerhalb des Konzertsaales ein außergewöhnliches Verhältnis zueinander haben, voller Freundschaft und Sensibilität. Und gewiss könnte sich [die Geschichte einer orchesterinternen Affäre] theoretisch auch im Finanzamt zutragen, nicht vorhandene Orchestergräben dort einmal vernachlässigt. Doch während durchschnittliche Finanzbeamte wahrscheinlich wenig Zeit darauf verwenden, ihre Kollegen zu hassen, sieht es im durchschnittlichen Symphonieorchester anders aus: Es ist ein Hauen und Stechen, ein Gemobbe und eine Intriganz, von der sich selbst die karrieresüchtigste BWL-Studentin etwas abschauen könnte.
Harmonie gibt’s nur im Musikalischen – zwischenmenschlich sind die Fronten ungefähr so verhärtet wie jene zwischen Israelis und Palästinensern, mit einem Unterschied: Im Nahen Osten gibt’s noch Hoffnung.
(…)
In den Instrumentengruppen gibt es wohl so etwas wie Solidarität, die sich bei den Blechbläsern vor allem in Schafkopf- und Skatrunden niederschlägt, während die Streicher sich zu kammermusikalischen Quartetten zusammentun. Die Fronten verlaufen zwischen den Registern – und wer die Landkarte der Verwerfungen einmal gezeichnet hat, der wundert sich, dass diese 60 oder 90 oder 120 Leute überhaupt noch einen Takt gemeinsam zustande bringen, geschweige denn eine ganze Symphonie. (…)Es gibt eine Hauptfront, die eine Erbfeindschaft, gegen die die frühere Abneigung der Deutschen und Franzosen ein laues Lüftchen war. Die Grundthese ist: Bläser hassen Streicher, Streicher hassen Bläser. (…) Woher kommt das? Nun, nichts ist einfacher zu erklären: Streicher brauchen relativ lange, bis sie ensemblefähig sind, was an den komplizierten Intonations-Problemen auf den markierungslosen Griffbrettern liegt. Wer jemals einem Geigen-Anfänger beim Üben zugehört hat, weiß, wovon die Rede ist. Die meisten Bläser hingegen, die Blechbläser vor allem, haben in einem Musikverein zu spielen begonnen, der Interesse daran hatte, den Nachwuchs schnell in die Blaskapelle zu integrieren. So haben praktisch alle Bläser Bierzelt-Erfahrung, was zwei Folgen nach sich zieht: zum einen eine gewisse Toleranz alkoholischen Getränken gegenüber. Zum anderen eine Lässigkeit, den Umgang mit der Musik betreffend – wer jemals eine rauschige Meute nächtelang mit dem Zillertaler Hochzeitsmarsch und dem Ententanz beschallt hat, macht sich über das Wesen der Kunst keine großen Illusionen mehr.
Währenddessen sitzen die Geiger in Streichquartett-Proben, von denen die Bläser sagen: Ein Streichquartett ist, wenn ein guter Geiger, ein schlechter Geiger, ein ehemaliger Geiger und ein Tenorgeiger zusammenkommen, um sich über den Komponisten zu beschweren. Kurz gesagt also: Die Bläser halten die Streicher für verkopfte, arrogante Künstleridioten. Die Streicher halten die Bläser für besoffene Ignoranten, die von Musik keine Ahnung haben. Natürlich haben beide Recht.
(…)
Wenn das Blech einsetzt, dann wird es gehört, da ist jeder Solist. Die Streicher an den hinteren Pulten hingegen spielen, wenn alle anderen auch spielen, und wenn sie abends mal in sich gehen, müssten sie sich eingestehen: Es ist eigentlich ziemlich egal, was sie spielen. Im Orchester-Jargon heißen sie „Tutti-Schweine“. Das Tutti-Schwein ist der Sachbearbeiter unter den Musikern – mach Dein Zeug, fall nicht auf, hab’ deine Ruhe.
Ein Trompeter, der nicht auffallen will, hat seinen Beruf verfehlt.
(…)
Das Blech hält jedenfalls zusammen – auch wenn die Trompeter auf alle herabschauen und zum Beispiel die Posaunisten als „Hin-und-Her-Trompeter“ bezeichnen. Die wehren sich, indem sie auf den wahnsinnig komplizierten Umgang mit Zug und Quartventil verweisen. Andererseits: So furchtbar viel zu tun haben sie nicht; wenn jemand im Kurkonzert Würstchen brät für die Pause, dann sind das sicher die Posaunisten mit Hilfe der Schlagzeuger. Die Hornisten werden von ihren Blech-Kollegen mit Argwohn betrachtet. Denn zum einen fraternisieren sie gelegentlich mit den Holzbläsern. Zum anderen (…) ist ihr Instrument „gefürchtet wegen seiner zahlreichen Unfälle. Greift ein Hornist zum Instrument, so verbreitet sich Nervosität im Orchester.“ Nicht umsonst heißt das Horn im Musikerjargon auch „Glücksspirale“.Das sind aber nur kleinere Frotzeleien im Vergleich zum großen Antagonismus Bläser – Streicher. Merkwürdigerweise haben jedoch die Cellisten einen Hang zum Blech – dass sie von ihren Streicher-Kollegen für irgendwie absonderlich gehalten werden, erklärt die Sache nicht, denn die eigentlichen Außenseiter sind die Bratschen, über die es mehr Witze gibt als über die Österreicher. Cellisten hingegen, obschon mit wichtigen Rollen und wunderbaren Stellen in der Orchesterliteratur ausgestattet, scheinen sich selbst als die Parias der Bogenkünstler zu verstehen. Wenn’s nach dem Konzert zum Trinken geht jedenfalls, sind sie als Einzige am Bläser-Tisch geduldet, und sie bleiben auch meistens bis zum Schluss.
Damit sich Streicher und Blech beim Spielen nicht an den Kragen gehen, sitzen als menschlicher Puffer die Holzbläser dazwischen. Die gehören eigentlich auch zur Anti-Streicher-Fraktion. Aber aus Sicht der Trompeter sind sie, nun ja: verdorben. Denn sie, meistens ebenfalls mit Blasmusik-Vergangenheit, leugnen ihre Wurzeln und wollen auch Künstler sein. Die Flötisten glauben, sie seien die Größten, weil ihr Instrument in der Partitur ganz oben steht. Die Oboen denken von sich dasselbe, nur weil sie im Besitz des Kammertons sind und vorm Konzert, beim Stimmen, alle auf sie hören müssen.
Dass alles auf großer Selbsttäuschung beruht, wird erkennen, wer den Holzbläsern zusieht: Sie bekommen einen unansehnlich roten Kopf (Oboe) oder machen ein Gesicht, als würden sie eine Kieferkorrektur benötigen (Klarinette). Das Fagott wird von den anderen Musikern „Spuckstock“ genannt – das sagt alles.Wird die Querflöte von einer Frau gespielt – was bitte so sein möge, kein Mann sollte Querflöte spielen –, dann ergibt sich eine erstaunliche Verwandtschaft mit dem Einzelkind des Orchesters: der Harfe. Auch sie wird meist von Frauen bedient, die ebenso wie die Flötistinnen oft feengleich sind, esoterisch, dünnfingrig, mit großen Vorbehalten gegenüber dem Trinkgebaren der Blechbläser. (…) Flötistinnen und Harfenistinnen sind sozusagen die Sozialpädagogen unter den Musikern, leise Instrumente, leise Frauen, zart: Tu niemandem weh, dann wird dir nicht wehgetan.
Ein böses Schicksal jedoch hat der Harfe einen Platz ganz hinten im Orchester zugewiesen, nahe beim Schlagzeug, und das ist eine eigene Bande. Von den Streichern werden Schlagzeuger fast noch mehr verachtet als die Blechbläser, denn: Kann es Musik sein, irgendwo draufzuhauen? (Dass ein Pianist im Grunde nichts anderes macht, wird dabei vergessen.) Das Problem der Schlagzeuger ist, dass sie nach einer unglaublich komplexen Ausbildung an allen Instrumenten des Schlagwerks – Pauken, Trommeln, Triangeln, aber auch Drumset, Xylophon, Vibraphon –, nach dem auch körperlich anstrengendsten Training aller Musikstudenten, später im Orchester rumsitzen und nichts zu tun haben.
(…) Ein einziger Ton während eines ganzen Konzerts: Da muss man sich nicht wundern, dass sie Ausgleich in der Freizeit suchen und Ergötzen daran finden, Werke zu spielen, in denen sie mit den Füßen Siebenachtel-Takte trommeln, mit der linken Hand Elfachtel und mit rechten Neunsechzehntel. Die anderen Musiker halten sie deswegen zu Recht für schrullig.
Mit der Geige habe ich es durchaus auch mal probiert. Als meine Eltern nach über einem Jahr Übens immer noch regelmäßig unter Vorschützung von Erledigungen das Haus verließen, wenn ich übte, ich aber inmitten dieser scheußlichen Klänge stehen musste, warf ich den Bogen hin. Zur echten Querflötistin fehlte mir (neben Talent und Ausdauer) die feengleiche Gestalt.
Am nähesten von allen Orchestermusikern kannte ich eine Cellistin, von der an geeigneter Stelle noch zu berichten sein wird. Es kostete mich Monate, bis ich ihre Berichte vom abendlichen „Quartettspielen“ nicht mehr mit Kartentischen in Verbindung brachte. Sie hatte tatsächlich einen Hang zum Blech, ähnlich wie übrigens die Kontrabässe, die eigenartigerweise in dem Artikel gar nicht vorkommen, obwohl sie in ihrer traditionellen Grobschlächtigkeit den Bläsern am nächsten kommen.