Auf meinem Weg in die Arbeit (26): Fremdschämen
Freitag, 2. September 2005 um 11:58Das ist dann halt meine englische Seite: die tiefe Abneigung gegen jede Art von making a fuss. Zwar ist meine gegenspielende deutsche Seite stark genug, mich bei höchster Ungehaltenheit zu wortlosem Schnauben und scharfem Tonfall zu bringen, doch insgesamt setze ich viel daran, fuss zu vermeiden, auch bei Mitmenschen.
Die Kehrseite: Es ist mir über Gebühr unangenehm und peinlich, wenn sich jemand anderer in meiner Gegenwart zu making a fuss hinreißen lässt. Wie zum Beispiel heute Morgen im Zug.
Ich saß im ICE an einem Vierertisch, mir schräg gegenüber schlief ein sehr dunkelhäutiger, jüngerer Herr, die dunkelblau besockten Füße auf dem Sitz ihm gegenüber, eine blaue Baseballmütze tief über die Augen gezogen, die Arme verschränkt. Zur Fahrkartenkontrolle weckte ihn die Schaffnerin und wartete, bis er zahreiche Beutel und Hosentaschen nach seiner Fahrkarte durchwühlt hatte. Sie knipste die Karte ab und bat darum, auch die Bahncard zu sehen. Nach einem Blick darauf bat sie zusätzlich um den Personalausweis des Herrn.
Und da ging der fuss los. „Wieso? Was willst du?“, blaffte der Herr mit starkem Akzent. Die Schaffnerin erklärte, dass er laut Bahncard 85 Jahre alt sein müsste, auf der Karte zudem das Foto fehle, und sie deshalb die Bahncard mit einem anderen Ausweis abgleichen wolle. Führerschein sei auch in Ordnung. (Spätestens an diesem Punkt wäre ich sehr gern sehr weit weg gewesen.) Unter halblautem Blaffen zog der Herr seinen Führerschein heraus und warf ihn auf den Tisch. Die Schaffnerin verglich und sagte: „Da steht ein anderer Vorname.“ Dann ging sie weg, der Herr steckte seine Karten ein.
Einen kurzen Moment lang hoffte ich, die Schaffnerin hätte einfach auch keine Lust auf fuss und würde die Sache übergehen. Vergebens, denn sie kam umgehend wieder, begleitet von der Zugchefin. Diese bat ebenfalls um die Bahncard und den Ausweis. Unter lautem Protest in gebrochenem Deutsch (hauptsächlich „Was willst du?“ und „Ich habe!“) schleuderte der Herr sie auf den Tisch. Auch die Zugchefin machte klar, dass viel zu hohes Alter und Unterschiede im Namen belegten, dass die Bahncard nicht seine sei. Mir war das Ganze furchtbar unangenehm, ich begann schon mal, meine Zeitung einzupacken. Die Zugchefin wies ihre Kollegin an, sich von dem Herrn die Bahncard-Ermäßigung nachzahlen zu lassen und die Bahncard zur Prüfung einzuschicken. Jetzt wurde es richtig laut, der Herr fuchtelte und protestierte in deutschen Brocken – viel mehr making a fuss geht eigentlich nicht. Aber mehr musste ich mir auch nicht antun: Der Zug rollte schon auf meinen Zielbahnhof zu, ich nahm meine Tasche und verließ den Wagen. Die Verkrampfung meiner Nackenmuskulatur löste sich erst Stunden später.
die Kaltmamsell12 Kommentare zu „Auf meinem Weg in die Arbeit (26): Fremdschämen“
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2. September 2005 um 12:36
Daher vermeide ich den ICE-Sprinter zu benutzen. Der hat Platzreservierungspflicht. Was immer mind. einem im Waggon nicht beizubringen ist und zu einem mittelmässigen Aufstand führt. Und dies noch dazu am frühen Morgen, wenn man sowieso noch lieber im eigenen Bett liegen würde.
2. September 2005 um 15:08
Ach Frau Kaltmamsell. Nicht nur ganz allgemein finde ich es schön, hier zu lesen, sondern auch wegen Deiner häufig so ganz andern Sichtweisen und Blickwinkel.
Wäre mir das passiert, ich wäre sensationslüstern bis zum Schluss dabeigeblieben und hätte starrend mit offenem Mund die Situation bis zum bitteren Ende ausgekostet. Ich hätte mir dabei eingeredet, das alles nur wegen gruppendynamischen Aspekten zu machen und um Verhaltensweisen diverser Bevölkerungsgruppen in solchen Situationen zu studieren. Rein wissenschaftlich – selbstverständlich. In einem Blogeintrag hätte ich mich über die Situation lustig gemacht.
Und dann lese ich das hier, und ein bisschen genier ich mich, weil ich so bin wie ich bin.
Also Selbstschämen statt Fremdschämen (Augenzwinkernd).
2. September 2005 um 17:25
Ja, ja, der ICE-Sprinter. Eingeweihte wissen natürlich von der Reservierungspflicht. Neukunden, die es nicht wissen (woher denn? Zug ist Zug), werden im Sprinter von der Bahn gepflegt in den Arsch getreten und rausgeworfen. Neue Dauerkunden gewinnt man so nicht. Aber die Bahn hat’s ja nicht nötig.
2. September 2005 um 22:12
… Reservierungspflicht. Neukunden, die es nicht wissen (woher denn? Zug ist Zug)…
Steht sowohl on- als auch offline eigentlich beim Fahrplan der betreffenden Züge dabei.
2. September 2005 um 22:27
Und die Bahn ist nicht in der Lage, für eventuell freigebliebene Plätze noch im Zug eine Reservierung zu verkaufen?
3. September 2005 um 10:30
Ich bin ja harmoniesüchtig und halte sowas nicht aus .Schon beim Lesen bekomme ich Bauchschmerzen.
Wobei ich es richtig finde einzuschreiten, wenn einer schummelt. Ich mag das nicht, wenn andere ein System ausbeuten, an das ich mich halte, und dann noch auf Angriff gehen.
3. September 2005 um 11:09
Haha, Stefan, “eventuell freigebliebene Plätze” noch im Zug verkaufen? Sie glauben, Passagiere ohne Reservierung steigen brav am nächsten Bahnhof wieder aus, wenn der Sprinter oder der Nachtzug (ebenfalls reservierungspflichtig) ausgebucht ist?
3. September 2005 um 11:37
Wie peinlich. Ich glaube, ich wäre woandershin geflüchtet. Arme Schaffnerin, die konnte nicht wegrennen.
Mir scheint aber, ich bin lange nicht mehr Deutsche Bahn gefahren. 20 Jahre oder so. Abteile gibt es nicht mehr? Wollt Ihr mir sagen, die haben auch die kultigen Klos mit den tollen Schildern in vier Sprachen abgeschafft?
3. September 2005 um 12:58
Oh, Lila, Du bist aber auch wieder inspirierend! Ich werde mich also dranmachen, Züge von innen zu fotografieren: ICE-Großraumabteile, ICE-Abteile, ICE-Kinderabteile, ICE-Klos, und das ganze nochmal in Regionalbahnen (minus Kinderabteil, das haben die nicht), dazu Speisewagen. ICs und ECs fahre ich so gut wie nie, aber zum Fotografieren kann ich mich ja darum bemühen.
3. September 2005 um 21:57
Beschäme mich nicht, bitte. Ich habe mich würklichwürklich mit meiner Aprikosenmaske eingeschmiert und fotografiert, aber das Bild ist so gräßlich geworden, daß ich es nur für Sekunden ertragen konnte und sofort wieder aus dem Blog gelöscht habe. Weißt Du was, ich stells bei Flickr rein, da ist so viel Zeug, da fällts nicht so auf.
Aber Züge, oh ja bitte, fotografieren! Ich bin früher viel zwischen Köln und Berlin gependelt. Noch in der Ausweisebittezeit. Daran werde ich immer erinnert, wenn die Kinder Harry Potter gucken und die Dementoren kommen ins Abteil.
Gute Nacht, ich schwafle schon.
3. September 2005 um 22:30
Äh, räusper, hier ist der Link
http://www.flickr.com/groups/46449955@N00
Ich habe todesmutig eine Gruppe bei Flickr eröffnet und lade Dich hiermit feierlich ein, Dein Bild zu meinem zu gesellen. (Wie man das macht, weiß ich nicht, aber Du wirst es schon schaffen!)
Hiermit sind alle mutigen LeserInnen aufgefordert, es uns nachzutun. “Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, die rosa Maske unverstellt, herbstkräftig die gestandne Frau, im Badezimmer blinzeln”.
4. September 2005 um 9:13
Es soll aber auch Männer geben, die sich Gesichtsmasken auftragen. Dürfen die auch in der Flickr-Gruppe posten?