Wort zum Sonntag

Sonntag, 5. Februar 2006 um 9:36

„Wer schreit, hat Unrecht“ ist ein Schmarrn. Gehört in dieselbe Kategorie Sprüche wie „Erst die Pflicht, dann das Vergnügen“ (also nach der Schule erst Hausaufgaben machen, dann Romane lesen), „Am Abend wird der Faule fleißig“ (bei Paniklernen vor Schulaufgaben) oder „Narrenhände verschmieren Tisch und Wände“ (angesichts Graffiti), mit denen meine Mutter mich erzog.

Richtig ist vielmehr: „Wer schreit, ist wütend.“ Es nützt der Konfliktlösung / Streitschlichtung, diese Wut ernst zu nehmen und sich damit auseinander zu setzen.

die Kaltmamsell

12 Kommentare zu „Wort zum Sonntag“

  1. Stolle meint:

    “wer schreit…”, findet kein anderes Mittel mehr, sich gegen Zumutungen zur Wehr zu setzen.
    Ist aber auch nicht in der Lage, sich einer rationalen Konfliktbearbeitung zu stellen, jedenfalls nicht im Moment des Schreiens. Ich stelle für mich fest – als Lehrer – das es zwei unterschiedliche Formen gibt: das ganz impulsive, unkontrollierte Schreien, welches mich überfällt. Und das andere, kalkulierte, welches ich gezielt einsetze, um einer Situation Herr zu werden. Da geht es um Macht und Autorität. Es verschafft mir Luft und grenzt einen Raum um mich herum ab, in den nicht einzudringen ist.

    Und zur derzeitigen Schulanfangszeitendiskussion fällt mir noch was Schönes ein:
    “Der frühe Vogel fängt den Wurm”.

  2. croco meint:

    Lautstärke ist Macht, und die kann man einsetzen.
    (Hysterisches Schreien meine ich jetzt mal nicht.)
    Und sie zeigt auch,wer der Chef ist.
    Das ist die eine Seite . Die andere ist die Wut, die einen zwingt, laut zu sprechen.Und die muss tatsächlich ernst genommen werden.Sie zeigt nämlich,dass dieser Mensch an seine Grenzen geraten ist.Und ich habe ihn vielleicht dazu gebracht.Wenn ich es nicht ernst nehme, wird es gefährlich.
    Danach kommt die Resignation, der innere Abstand zur Arbeit, zum Menschen, und wenn er mal weg ist, kann ich ihn nicht mehr zurückholen.

    Und diese dummen Sinnsprüche, mit denen man Kinder in Schranken weist, gehe mir schon lange auf die Nerven.

  3. Lila meint:

    “Geduldige Schafe gehen viele in einen Stall.”
    “Viele Hände, schnelles Ende.”
    “Wer morgens singt, denn holt abends die Katz.”
    “Wer schön sein will, muß leiden.”
    “Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.”

    “Ach Kinder, es hat sich doch keiner selbst gemacht.”

  4. croco meint:

    Ach Lila, du kannst mich doch nienicht nerven ;-)

  5. Schluesselkind meint:

    @Lila: Genau! Und ein All-time Favorit: “Solange ihr die Füße unter meinen Tisch stellt…” (plus beliebige Fortsetzung) ;-)

    Mir geht es jedoch oft so, dass ich schreiende Menschen nur schwer ernst nehmen kann. Leise Wut finde ich viel bedrohlicher.

  6. a.more.s meint:

    Als Schmarrn oder dumm würd’ ich die “dummen Sinnsprüche” nun auch nicht grade unbedingt bezeichnen – steckt ja immer irgendwo ein Quentchen Wahrheit drin. Jedes Wort ist falsch und wahr zugleich, das ist das Wesen des Worts.
    Dummheit offenbart sich wohl eher in der Anwendung, wenn das unbedingt notwendige Augenzwinkern fehlt…
    Lautstärke gleich Macht? Lautstärke schon mal beliebig z.B. durch Geld, Intelligenz oder Schweigen ersetzt? Allesamt äusserst lautlos und doch, gerade im Falle des Schweigens, der Stille, mächtiger als jedes Gebrüll.
    Und was ist am Machtbegriff gleich immer so ausschliesslichfraglostotalitär Negatives?

  7. stoertebeker meint:

    “Wer schreit hat Unrecht und wer flüstert lügt ….!”
    Mehr fällt mir dazu so schnell nicht ein :-(

  8. Malblog meint:

    Mir scheint, das was Herr Stolle schreibt auch auf mich zuzutreffen. Es gibt Situationen in denen man sich eigentlich nur durch schreien den dringend notwendigen Raum & die Luft der man bedarf aneignen kann. Mein Ideal Zustand ist das allerdings nicht. Doch gibt es immer wieder Situationen, die kaum etwas anderes erlauben, weil die Botschaft ansonsten einfach nicht durchdringt. Das Problem ist eher wie ernst die Wut genommen wird. Meist wird die Wut ernst genommen, schon weil sie so offensichtlich ist, aber eine offene Auseinandersetzung findet doch kaum statt. Man ist einfach nur an eine Grenze gestoßen. Punkt. Die Folge kann auch sein, wenn es denn möglich ist, sich zukünftig weiträumig zu umgehen.
    Ob an sogenannten Sinnsprüchen etwas wahres dran ist hängt wohl in erster Linie von ihrem passendem oder unpassendem Gebrauch also vom Kontext ab.

  9. Londo meint:

    Beim Schreien hängt es immer vom Zusammenhang ab. Es gibt Situationen, wo in einer vorher sachlichen Diskussion geschrien wird. Das kann mehrere Gründe haben. Der erste: einem Diskussionsteilnehmer sind die Sachargumente ausgegangen, und er verlegt sich aufs Schreien – meist verbunden mit einer verbalen Attacke “ad hominem”, sprich: man greift anstatt der Gegenargumente die argumentierende Person an. Das sind die Situationen, die zu obigem Sprichwort geführt haben. Ein anderer möglicher Grund: man hat – meist unbeabsichtigt – eine empfindliche Stelle des Gegenübers gefunden. Hier hilft nur: abwarten, bis der andere sich abgeregt hat (sofern möglich), dann ruhig und sachlich nachfragen, was denn los ist. Ich weiß, das kann man nicht immer einhalten, vor allem wenn man selbst emotional an einer Diskussion beteiligt ist. Dann gibt es Schreien als Versuch, Macht über andere zu gewinnen. Hier weiss ich kein Patentrezept. In den letzten beiden Situationen trifft das obige Sprichwort natürlich nicht zu.

    @Stolle: “Der frühe Vogel fängt den Wurm” – wäre es nicht besser für den Wurm gewesen, wenn er länger im Bett geblieben ware? :D

  10. Jörg meint:

    Es nützt der Konfliktlösung / Streitschlichtung, diese Wut ernst zu nehmen

    Ein sehr theoretisches Verständnis von Kommunikation und Konfliktlösung. Leider reagieren die meisten Leute eher emotional bei Konflikten und da kann Schreien eher zur Eskalation beitragen – bis hin zum Verlust an Authorität.

    Ganz abgesehen davon, das Schreien oft mit Herabsetzung des Gegenüber verbunden ist. In Unternehmen, die eine strenge Verhaltens-Policy im Miteinander und gegenüber Kunden haben, kann das zum Ende der Karriere führen. Schlechte Zeiten für Choleriker.

  11. croco meint:

    Gut, nun stelle ich doch meine hauptsächlichen Schreiszenarien vor. Mit gepflegten Diskussionen und so hat das nun wenig zu tun.

    Also, zwei Jugendliche haben sich ineinander verkeilt, verbissen, und lassen nicht los. Der eine würgt den anderen schon. Der lässt nur los, wenn ich schreie. Eine Diskussion kann später geführt werden,wird sie auch.
    Ein Trupp Jugendlicher überquert gegen alle Anordnungen eine mehrspurige Staße. Wer glaubt, dass ein lässiges Rufen “Jungs, kommt zurück” irgend welche Folgen haben würde, täuscht sich. Ruhige Gespräche folgen aber ebenfalls.
    Und es gibt Situationen, in denen eine Frau brüllen darf, bei betrunkenen Jugendlichen, bei Kampftypen, die Frauen sonst meist nicht wahrnehmen, in Extremsituationen.
    Und das hat nichts mit recht oder Unrecht zu tun, sondern es hat was mit Macht zu tun, und mit Stärke.
    Ach ja, und einmal habe ich einen Vater zusammengebrüllt, der sein Kind nicht ins Krankenhaus bringen wollte.”Datt hat nex, datt soll sech nech sou anstelle”. Das Kind hatte Hirnhautentzündung, und der Vater merkte erst, dass ich es ernst meine, als ich brüllte. Seine Frau sagte später, dass mein Brüllen ihren Mann zum Nachdenken gebracht hätte.”Die meint datt ernst, die hat gebrüllt”
    Meine Autorität leidet nicht darunter, im Gegenteil.

  12. Jörg meint:

    Ich versuche mal einen Kompromiss:

    Es kommt auf die Situation an. Wenn das Schreien nur eine erwartete weitere Stufe der Eskalation ist, dann kann man es auch lassen, ebenso, wenn es als typisches cholerisches Verhalten bewertet wird.

    Wenn es unerwartet und zum richtigen Moment kommt (“aber holla, was ist denn jetzt los”), dann kann es Stärke ausdrücken, aus misslichen Situationen raushelfen, oder gar Leben retten (“Achtung der Balken…”).

    Bei allem kommt es natürlich auch auf die Dickfelligkeit des Gegenüber an.

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