Lesetipps, gesammelt
Sonntag, 12. März 2006 um 8:45Meine Tageszeitung kommt zu spät, als dass ich sie auf meine Pendelfahrten in die Arbeit mitnehmen könnte, deshalb habe ich dort in den letzten Wochen vermehrt Bücher gelesen. Davon seien empfohlen (völlig ohne Spoiler, ehrlich):
A.L. Kennedy, Everything you need
Davor hatte ich einen Band mit Kennedys Kurzgeschichten gelesen (Indelible Acts), die mir ein wenig zu ausgefuchst und clever gebaut waren: Ihre Konstruktion lenkte mich ab. Auf der Langstrecke von Everything you need kommt die erzählerische Ausgefuchstheit der britischen Schriftstellerin viel besser zur Wirkung, weil sie über die 567 Seiten des Buches einen wunderbaren Rhythmus erzeugt.
Es geht um eine sehr junge Frau, Mary, und eine kleine Künstlerkolonie auf einer gottverlassenen walisischen Insel. Einer der Künstler ist Marys Vater Nathan, das weiß die junge Frau aber nicht. Er sorgt dafür, dass sie ein mehrjähriges Schriftsteller-Stipendium auf der Insel bekommt.
Äußerlich passiert nicht viel mehr als der Alltag unter diesen seltsamen Leuten. Und doch sehnte ich mich jeden Tag danach, den Roman wieder aufzuschlagen und einzutauchen in den Regen, den Wind, die Kargheit der Insel, Marys Ringen mit dem Schreiben mitzukämpfen, Nathans mit seinen Dämonen, die anderen Künstler ein wenig besser kennen zu lernen. Eines der Bücher, die für die Zeit des Lesens mein Zuhause werden.
Das Buch, Menasses Familiengeschichte, hat mich so sehr in die Welt Friedrich Torbergs zurückgezogen, dass ich mir immer wieder vor Augen führen musste, dass der größte Teil ein halbes Jahrhundert nach der Tante Jolesch spielt.
Nicht chronologisch, sondern eher wie man sich in heiterer Familienrunde, die in Vienna oft in dieser Form auftaucht, Familiengeschichten erzählt. Typische Anfänge von Absätzen sind „Als er verhaftet wurde, nähte mein Onkel gerade eine Pyjamahose.“ oder „Manche sind der Ansicht, mein Bruder sei zu den Geschäften meines Vaters seit jeher in grimmiger Opposition gestanden, doch das stimmt so nicht.“ Gleichzeitg ist ein Thema des Buches die Ablenkungsfunktion, die das Geschichtenerzählen in dieser Familie hatte. Ablenkung von all den Dingen, über die nicht gesprochen wurde.
Zur Torberg-Ähnlichkeit gehört der Reichtum an Zitierbarem in Vienna. Dem Mitbewohner, von Natur aus jeder Form von Draußen- oder gar Im-Grünen-Aktivität abhold („Wenn ich frische Luft will, mach ich’s Fenster auf.“) konnte ich zum Beispiel als Abwehr gegen Ausflugansinnen anbieten: „Bin ich a Reh?“
Jens Soentgen, Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie
Eine Einführung in die Philosophie aus dem Jahr 2005, aber weder an der Chronologie, noch an Personen aufgehängt, sondern in 20 übliche Techniken sortiert (u.a. Hinsehen, Präzisieren und Definieren, Logik, Gedankenexperimente). Wunderbar geschrieben, ungewöhnlich illustriert (von Nadia Budde). Wie nebenbei tauchen alle wichtigen Figuren der westlichen Geistesgeschichte auf, inklusive Schwerpunkt und Bedeutung. Und allein schon die Literaturhinweise am Ende der Kapitel sind das ganze Buch wert.
Minette Walters, The Shape of Snakes
„Lang und dünn”, sagte der Mitbewohner, als er den Buchtitel las. Und dann: „Oh, jetzt habe ich dir die Spannung kaputt gemacht.“
Unter den zeitgenössischen Krimischreiberinnen der englischsprachigen Welt ist Minette Walters etwas Besonderes. Das beginnt damit, dass sie keine Serie schreibt (wie Elizabeth George oder Patricia Cornwell), sondern voneinander unabhängige Geschichten und Settings. Walters verwendet ungewöhnliche Perspektiven und Fälle, gern liegt der Auslöser der detection Jahrzehnte zurück.
In The Shape of Snakes ist es eine Frau, die nach zwanzig Jahren zurück nach England kommt und den Todesfall einer schwarzhäutigen Nachbarin und Tourette-Patientin auf eigene Faust wieder aufrollt, die damals vor ihrer Haustür starb: Sie ist überzeugt davon, dass es sich um einen Mord aus rassisitschen Motiven gehandelt hat. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive dieser Frau und, eine typische Walters-Technik, anhand von Dokumenten wie alten Briefen und Protokollen. Dadurch wird die ermittelnde Hauptfigur sehr vielschichtig und manchmal durchaus zwielichtig.
(Das ist Mitbewohners persönliches Exemplar. Hemingway kauft man im Antiquariat, bitteschön, oder auf dem Flohmarkt.)
Ernest Hemingway, Fiesta. The Sun also Rises.
Klassiker werde ja selten empfohlen, weil man sie doch eh kennt. Wie ungerecht.
Fiesta hatte ich zwar während meiner ersten Hemingway-Phase um meinen 20. Geburtstag rum bereits gelesen, aber zum einen auf Deutsch, zum anderen war ich jemand anderes.
Das Wiederlesen, auf Englisch und fast 20 Jahre später, hat mir bestätigt, dass ich Hemingways Sachen liebe, und es ruft mir viele Bilder in den Kopf, die ich beim ersten Lesen noch gar nicht zur Verfügung hatte. Eine Busfahrt durchs hochsommerliche Nordspanien vor dem Bürgerkrieg, Paris mit Concierge und Dachkammern, schöne, harte, rücksichtslose Frauen. Hemingways schmerzensreiche Balance am Abgrund liegt mir so viel mehr als die eines Bret Easton Ellis.
Allerdings wird in Fiesta derart viel gesoffen (z.B. mal eben zwei Flaschen Rotwein zum Mittagessen, pro Mann), dass ich schon vom Lesen Kopfweh bekomme.
die Kaltmamsell6 Kommentare zu „Lesetipps, gesammelt“
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12. März 2006 um 13:50
Kannst Du mal bitte damit aufhören?
Diese Blogsleserei macht sowieso schon, dass ich zu wenig Bücher lese, und dann macht sie auch noch immer die Wunschliste länger. Menno.
12. März 2006 um 14:01
Isabo, du brauchst ein Lesepult direkt neben dem Computerbildschirm, dann funktioniert auch hier das Multitasking. Sogar für mich als Mann:)
12. März 2006 um 18:46
Bitte, bitte noch mehr! "The Time Traveler’s Wife" war eines der schönsten Bücher ever. Und den Tipp hatte ich von hier. Danke schön an dieser Stelle.
12. März 2006 um 21:53
Oh, schöne und treffende Besprechungen, richtig für die drei Minuten, die die Buchhändlerin nicht überschreiten sollte.
Dass Klassiker selten empfohlen werden, stimmt. Dass man sie doch eh kennt, war in Ländern mit voller Alphabetisierungsrate selten unwahrer. (Der grösste Einbruch bezüglich Klassikerkenntnis im deutschsprachigen Raum war meiner Beobachtung nach das Ende des kalten Krieges und damit der Ostverlage, was mich manchmal trotz besseren Wissens sentimental stimmt.)
14. März 2006 um 11:53
The Sun Also Rises, lange eher ungenießbar, scheint mir wieder gut in diese Zeit zu passen. Ich glaube, wir haben eine sehr ähnliche Ausgabe, muß ich nachher noch mal nachschauen.
15. März 2006 um 1:01
Fiesta, ein Buch, bei dem unschlüssige Käufer sich nicht nach dem ersten Satz richten können, sondern die letzte Seite anlesen müssten. Die Schlussszene – so großartig, so traurig.
In der Schule hatten sie uns Hemingway im Deutsch- und Englischunterricht so verleidet, dass ich ihn erst viele Jahre später wieder für mich entdecken konnte.