Nochmal das mit der Studienreise

Sonntag, 4. Juni 2006 um 10:35

Ich musste erst mal in mich gehen, um mir darüber klar zu werden, was ich eigentlich erwartet hatte, als ich leichthin eine „Studienreise“ buchte. Denn in erster Linie hatte ich mit meiner Mutter Polen anschauen wollen, selbst aber weder Zeit noch Energie gehabt, mich um Route und Organisation zu kümmern. Ich glaube, ich hatte einfach erwartet, dass ein Bus mich von Ort zu Ort bringen und in einem Hotel absetzen würde, dass eine reiseleitende Person mich mit ein paar einführenden Worten und Material versorgen würde, man mich ansonsten aber in Ruhe lassen würde. Da ich recht überrascht über den tatsächlichen Ablauf war, der laut regelmäßig Studienreisenden die Norm ist, hier also für ähnlich Naive die Details:
Bis auf deutlich gekennzeichnete Zeiträume „zur freien Verfügung“ ist jede Minute der Reise verplant. Auf den langen, langen Fahrten informiert der Reiseleiter per Busmikrophon über alle denkbaren Aspekte des Landes und der Leute, täglich werden im Durchschnitt eine Siedlung (Stadt oder Dorf), drei Kirchen, eine Burg besichtigt, mit ausführlichen Informationen zu weltlichen und religiösen Details. Und das alles in der Gruppe. In der täglich auch mindestens zwei Mahlzeiten eingenommen werden.

Die Veranstalter sind sogar stolz darauf, dass die Teilnehmer sich um rein gar nichts selbst kümmern müssen. Gar. Nichts. Manchmal kam mir die Reise vor wie eine Fahrt von einem Klo zum nächsten, auf der – wenn wir schon mal hier sind – auch Kirchen und Schlösser besichtigt wurden.

Bei Reiseantritt war ich durch und durch urlaubsbedürftig, die davorliegenden anstrengenden Arbeitswochen waren mir an die Substanz gegangen. Dass eine Studienreise nicht erholsam ist, hatte ich völlig verkannt. Für mich ganz persönlich belastend war das Reisen als Gruppe. Ich wollte all diese Leute einfach nicht kennen lernen:
Nicht den nervösen Zwinkerer / Schniefer mit leichter Altersdemenz, der kaum etwas mitbekam und seiner Frau während der Busfahrten immer von früheren Reisen erzählte, von denen er vergessen hatte, dass sie dabei war (ihre knappe Erläuterung: „Wenn ich verreisen möchte, muss ich ihn mitnehmen. Allein lassen kann ich ihn nicht mehr.“).
Nicht den Schweizer Dauerschleimlöser, der zumindest den Regler seines Hörgeräts zu nutzen wusste und sich nach Gusto ein- oder ausklinkte.
Nicht die dicke, alte Abseitssteherin mit ihren destruktiven Zwischenbemerkungen.
Nicht das Ehepaar, das sich bei einem Abendessen damit brüstete, wie oft sie sich bereits bei diesem Reiseveranstalter schriftlich beschwert hatten und wie viel Geld sie dadurch zurück bekommen hatten. (Die einzige Situation, in der mich mein diesmal eisern gutes Benehmen verließ und ich ein bisschen bellen musste.)
Nicht mal die beiden an sich interessanten über 80-jährigen Berliner Freundinnen mit ihrer rostfreien inneren und äußeren Eleganz.
Und schon gar nicht den belehrenden Nebenerwerbsschlossführer aus Bremen, der zu jeder Ausführung des Reiseleiters eine Zusatzinformation oder Korrektur präsentierte, ob zum Thema passend oder nicht.

Fluchtmöglichkeiten gab es keine, ich wollte ja auch die gemeinsame Zeit mit meiner Mutter nutzen. Also riss ich mich zusammen und beobachtete, wie dieser Stress mit der Zeit zu Appetitverlust, übler Laune und Heimweh führte.

Aber jetzt weiß ich unter anderem eine Menge Neues über Polen und seine verstrickte Geschichte, über die Rolle Deutschlands darin, über jüdische Geschichte in Europa. Andererseits brauche ich jetzt fast dringender Urlaub als vor zwei Wochen.

Polen_Bus.jpg

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Nochmal das mit der Studienreise“

  1. Claudia meint:

    Busreisen sind in der Regel schon ziemlich anstrengend.
    Eine “Studienreise” ist da wohl die Steigerung dazu und seltsam ist, dass der Besserwisser und die “Beschwerdenführer” auf jeder Busreise dabei sind.

  2. croco meint:

    Ach Sie, Arme!
    Bei Gruppenreisen denke ich immer an Sartre :
    Die Hölle, das sind die anderen.

    Auf solche Reisen fahren Menschen mit, die sonst nicht alleine dort zurecht kämen, die auch keiner mitnimmt und sie sonst wenig Kontakt zu anderen haben. Und so erfolgt die Potenzierung aller Eigenschaften vor Ort.
    Ich weiß, wovon ich rede, bei meinen beiden Gruppenreisen konnte ich auch den Mund nicht halten. Dafür hat sich jedes Mal der Reiseleiter zu uns gesetzt, um in Ruhe essen zu können, ohne Gezeter und doofe Geschichten.
    Ich mache erst wieder eine Gruppenereise, wenn ich nichts mehr hören kann, meine Beine wackelig sind und ich andere so richtig nerven möchte, ohne dass sie weglaufen können.

    Haben sie auch “Beruferaten” gemacht?

  3. Lila meint:

    Kaltmamsell, Croco, Claudia, ich erstarre. Das klingt ja entsetzlich. Und ich dachte, meine Horrorfahrt mit der Jugendgruppe von St. Martinus an den Limfjord anno 1978 war der Gipfel! Ich sehe, es kann noch schlimmer.

    Hohen Respekt für die tadellose Haltung. Bin schwer erschüttert.

  4. Tanja meint:

    Ich weiss zum Glück ob der Studienreisen Anspruch an Kraft und Nerven, denn in der Schweiz macht das die (gemein[hin] genannte) “Fun-Generation”. Und weil die sehr zahlreich und teilweise mit einem verwandt sind, kann man sich den Rapporten selten entziehen. Die “Fun-Generation” das sind die Ehepaare, die nur auf das Reisen nach der Pensionierung gewartet haben, die um die Augen rum wesentlich jünger aussehen als ich, über die Flur joggen wie Rehlein und noch die AHV, Pensionskasse, 3. Säule und Krankenkasse-Lösung haben, die man braucht, um das Studiosusprogramm nicht nur durchzustehen, sondern auch von der Nilfahrt bis zur Seidenstdrasse zu finanzieren. Vor allem weil sich die Gutschriften durch Verschiebung wegen Terror manchmal empfindlich verzögern, wie man mir erzählt, tz tz tz.

    Ich habe einmal so etwas für Island angeschaut. Den Preis hätte ich mit der nötigen Selbstdisziplin noch aufbringen können, aber leider hatte ich die 14 Tage Ferien nicht übrig, die ich vorher gebraucht hätte.

  5. Jessica meint:

    Hallo,

    Oh, das erinnert mich alles sehr negativ an meine zweiwöchige Studienreise durch Ägypten. Ich weiss nicht, welcher Teufel meinen Mann und mich geritten hatte, das auch noch als Hochzeitsreise zu buchen. Für mich steht jedenfalls fest, dass dies meine erste und letzte Pauschalstudienreise war. Sie nahmen uns sogar unsere Reisepässe ab, damit von ihnen alle Formalitäten erledigt werden konnten. Bessergesagt in meinem Fall versuchten sie es zumindest, hergegeben habe ich den Pass immer nur kurzfristig für das Einchecken im jeweiligen Hotel. Danach war ich urlaubsreif und von Honeymoon konnte man auch nicht wirklich sprechen, aber zumindest hatten wir viel, viel, viel gesehen.

    Liebe Grüsse,
    Jessica

  6. Anke meint:

    Jetzt muss ich aber doch mal eine Lanze für Studienreisen brechen. In Ländern, in die ich mich mit englischen Sprachkenntnissen und einem Reiseführer aus Papier reintraue, brauche ich sowas auch nicht. Aber für Ägypten und China fand ich persönlich Studiosus ziemlich klasse (hehe, genau, Nilkreuzfahrt und Seidenstraße). Ich gebe zu, die Klofrequenz war ziemlich hoch, aber eben ein Zugeständnis an das eher hohe Alter der Mitreisenden. Ansonsten war’s bei uns wie bei dir beschrieben: Infos über alles, zu jeder Zeit. Zum viel Lernen ist eine Studienreise daher klasse. Als Urlaub nur bedingt tauglich, da gebe ich dir recht.

    (Mitreisende konnte ich ziemlich gut ignorieren, weil ich circa 40 Jahre jünger war als der Durchschnitt. Und notfalls helfen Walkman- oder iPod-Kopfhörer als deutliches Signal.)

  7. croco meint:

    Nach China und Ägypten habe ich mich auch nicht alleine getraut, das waren die beiden Studienreisen :-)
    Das mit den Signalen stimmt. Und das mit dem Walkmann auch.

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