Rückkehr unmöglich
Mittwoch, 28. Juni 2006 um 9:24So viele Erinnerungen an Orte sind untrennbar mit einer bestimmten Zeit verbunden.
Eben, als mein Blick beim Nachdenken aus dem Bürofenster und auf eine Backsteinwand in gleißendem Sonnelicht schweifte, packte mich ein Erinnerungssturm und trug mich in einen Kindheitssommer in Madrid zurück. Mitten nach Moratalaz (hier ein zu meiner Erinnerung passendes Foto), in eine dieser geschwürartigen Trabantenstädte am hügeligen Stadtrand. Dorthin, wo Reihen um Reihen von Wohnblock-Kolossen standen, alle aus Backstein, kaum voneinander zu unterscheiden. Dazwischen festgetretene hellgelbe Erde, staubtrocken, mal halbwegs eben, dann wieder in der Hügelform des Bau-Aushubs. Spielgerätförmige Stahlstangen mit abgeblättertem Lack. Jederzeit funktionsfähig dafür die Trinkwasserbrunnen an jeder Ecke (die ich bis heute in deutschen Städten vermisse). Hier spielte ich früh morgens und im letzten Tageslicht, also die brüllende Sommerhitze meidend, mit Kusinen, Kusins und Nachbarskindern, die nach der Siesta monströse, mit Chorizo belegte Baguettestücke als merienda bei sich trugen, die sie von ihren Müttern aufzuessen geheißen wurden, von denselben Müttern, die dann schimpften, wenn ihre Kinder beim Abendessen um 23 Uhr keinen Hunger mehr hatten. Ich hätte diese zusätzliche Mahlzeit sehr begrüßt, aber meine kalorienzählende Mutter dachte gar nicht daran, sich in diesem Punkt den Sitten des Landes anzupassen. Nur wenn meine Yaya mich hütete, bekam ich ein bocadillo zur merienda, im besten Fall mit Schokolade belegt (erst später fand ich eine Erklärung, warum das bettelarme Franco-Spanien ausgerechnet Schokolade im Überfluss hatte: Verbindungen zu Cuba). Allerdings machte auch ich mich unbeliebt, da ich gerne mal das trockene Weißbrot liegen ließ und nur das dicke Stück Schokoladentafel futterte.
Für den abendlichen Familienspaziergang, vor allem natürlich am Sonntag, wurden wir Kinder mords aufgebrezelt, Lackschühchen und Rüschen für Buben wie Mädchen, glänzend gekämmtes offenes Haar, Schleifchen. Das ließ auch ich mit mir machen, denn im Gegensatz zu meinen Altersgenossen vor Ort ging dieser lächerliche Aufzug bei mir nicht mit der Auflage einher, bloß nicht darin zu spielen und den Sonntagsstaat schmutzig zu machen (meine Mutter war vor der befreienden Kraft des Sich-Schmutzig-Machen-Dürfens überzeugt). An ein Detail allerdings konnte ich mich nie recht gewöhnen: die spitzengehäkelten Unterhosen. Sie wurden den Mädchen über die eigentlichen Schlüpfer angezogen und waren mangels Elastizität sehr unbequem. Als Kniestrümpfe gab es das Gehäkel auch, ebenfalls mangels Elastizität ohne jede Chance, ungerutscht an den Unschenkeln zu halten.
Auf einer dieser staubigen Lehmflächen stand eine Wellblechhütte, die Vorderseite mit einer Klappe zur Theke zu verwandeln. Das war die nächste churreria, in der Teigstangen in Fett knusprig gebacken wurden: dünne churros oder dicke porras*. Sonntags nahm mich mein Vater dorthin mit, und dann kauften wir einen riesigen Packen von beidem, in viele Lagen Zeitungspapier geschlagen. Daheim hatte die Yaya dann schon dickflüssige heiße Schokolade zubereitet (aus dem Packerl natürlich), in die wir die churros und porras stippten. Ein paar Mal schickte mich der Papa auch allein churros holen, und einmal verlief ich mich auf dem Rückweg ganz fürchterlich, weil doch diese Wohnblocks alle gleich aussahen.
Durch die großen Glastüren des Wohnblocks kam man erst mal in eine vor poliertem Stein glänzende Empfangshalle, in der es im Gegensatz zur sengenden Augusthitze schön kühl war. Auf dem Weg in eine der Wohnungen, oder auch nur zum Aufzug, musste man an einer Portiersloge vorbei. Darin saß ein portero oder eine portera, Hausmeister, Aufpasser, Klatsch- und Tratschzentrale des Hauses. Dieser Mensch wusste alles über jeden im Haus, konnte verlässlich über Ab- oder Anwesenheit der zu besuchenden Person Auskunft geben – und hätte niemals jemand Bösen durchgelassen. Das waren begehrte Posten, so als portero oder portera, die gerne ausrangierten Franco-Bürgerkriegsgefolgsleuten zugeschoben wurden.
Schon in den 80ern begrünte die sozialistische Stadtregierung die Flächen zwischen den Blöcken (und schaffte die porteras ab) – dass die Sozialisten das waren, betonte meine politisch krachrote Tante aus Galicien bei jeder Gelegenheit: „Das haben die Sozialisten gemacht.“ „Und hier haben die Sozialisten einen Brunnen hingebaut.“ „Weißt du noch, wie schlimm das hier früher ausgesehen hat? Haben alles die Sozialisten verschönt.“ Aus den Portierslogen wurden normale Wohnungen gemacht, das Personal ersetzten Gegensprechanlagen.
Dorthin gibt es keinen kein Weg zurück, die Gegend ist nicht stehen geblieben, sondern weitergegangen in der Zeit. Es sieht alles anders aus, es riecht alles anders. Vermutlich liegt darin die Erklärung, warum es mich kaum nach Spanien zieht: Das, woran ich am liebsten denke, was ich gern mal wieder sähe, existiert nicht mehr. Das heutige Spanien interessiert mich nicht mehr als das heutige Italien, dafür erheblich weniger als das heutige England.
Und so bin ich sehr dankbar, wenn meine Erinnerung mir hin und wieder einen umfassenden inneren Besuch zurück ermöglicht.
*(Nicht vom Fototitel irritieren lassen, das sind keine churros, sondern porras.)
die Kaltmamsell1 Kommentar zu „Rückkehr unmöglich“
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18. März 2011 um 14:14
Bin erst vor Kurzem auf dieses Blog gestossen und freue mich jetzt tierisch jeden Tag auf meine Ration Kaltmamsell – wird streng rationiert, damit es möglichst lange reicht.
Ach ja, und dieser Kommentar hier zwecks Einladung – solltest Du mal doch wieder echtes 90-Jahre-Moratalaz-Feeling schnuppern wollen, komm einfach mal vorbei bei mir, ich lebe im madrilenischen Viertel Hortaleza – portero sowie restliche beschriebene Gegebenheiten sind hier nach wie vor erhalten!