Äpfel
Freitag, 29. September 2006Ich hatte zu Schulzeiten eine Freundin, Fanni (von Franziska), deren Vater Hobby-Pomologe war; von ihr lernte ich auch das Wort. Ihn selbst, einen apfelrunden, kleinen Mann, der immer in Arbeitskleidung zu stecken schien, kannte ich nur vom Sehen bei kurzen Begegnungen, wenn ich diese Freundin von Zuhause abholte, aber Fanni erzählte oft von seiner Leidenschaft für den Obstanbau. Mit gewissem Groll einerseits: Fannis Vater besaß im Niederbayrischen Obstgärten („Obstplantagen“ nannte Fanni sie) und spannte seine ganze Familie zu deren Pflege ein. So stand Fanni wochenends nur selten für Verabredungen zur Verfügung, da sie, ihre Mutter und ihre beiden Geschwister dann nach Niederbayern fuhren, um die Bäume und Büsche zu versorgen oder das Obst zu ernten.
Doch sie sprach auch mit großer Bewunderung von dem Hobby ihres Vaters: Er sammelte nämlich alte Obstanbaubücher, nicht nur wegen des darin enthaltenen Wissens um die Pomologie, sondern auch wegen der begehrten Abbildungen. Die alten Stiche bringen wohl als Einzelblätter sehr viel Geld ein, weswegen sie oft aus den Büchern geschnitten und einzeln verhökert werden. Sein Ziel aber war es, die alten Bücher im Originalzustand zu retten. Auch für diese Seite seiner Leidenschaft spannte Franziskas Vater die ganze Familie ein: Er schickte sie in ganz Europa auf Auktionen. Da er für die Bahn arbeitete, versorgte er seine drei Kinder und seine Frau mit Freifahrscheinen, und so kam Fanni schon im Teenageralter unter anderem regelmäßig zu Sotheby’s in London. Auch wenn sie dabei von ihrer drei Jahre älteren Schwester begleitet wurde, waren das natürlich richtige Abenteuer, von denen sie gerne erzählte: Wie sie es sich in „Schlumpfklamotten“ im Nachtzug bequem machten (Schlafwagen waren viel zu teuer), auf die Fähre über den Kanal umsteigen mussten, sich in den letzten Stunden vor London noch mal mit dem Auktionskatalog und den vom Vater markierten Stücken vertraut machten. Wie sie sich bei Sotheby’s in Birkenstock und Jogginghose (die seligen 80er) ihre Auktionsnummer auf Schildchen abholten und sich zwischen all die edel gekleideten anderen Steigerer stellten, um bis zum vom Vater vorgegebenen Höchstgebot mitzusteigern – mal mit Erfolg, mal ohne. Wie sie nur wenige Stunden eher ziellos in London herumspazierten – Geld für Amüsements hatten sie ja keines – um sich bald wieder in den Zug zurück nach Süddeutschland zu setzen.
Fannis Vater wurde wohl mit der Zeit eine bekannte Koryphäe auf dem Gebiet der alten pomologischen Bücher und stand in Korrespondenz mit anderen Aficionados auf der ganzen Welt.
Von ihr lernte ich auch das Wort „Desiderata“ für die Liste mit Büchern, nach denen ihr Vater noch suchte (leider konnte ich bislang den Mitbewohner noch nicht dazu bringen, seine Suchliste mit alten Superhelden-Comics auch so zu nennen). Diese trug sie bis zum Tod ihres Vaters vor einigen Jahren bei jeder Reise mit sich, um sich pflichtgemäß in weniger bekannten Antiquariaten nach den Büchern zu erkundigen. Mittlerweile habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr; ich wüsste gerne, was aus diesem Pomologenschatz geworden ist.
Einmal traute ich mich, den stets finster dreinblickenden Fanni-Vater direkt anzusprechen: Ich hatte während meines Studienjahres in Wales Bramley-Äpfel entdeckt und mich für sie begeistert. Zum einen wegen ihres seltsamen Aussehens (wie gigantische Granny-Smith-Äpfel, aber platt gedrückt), zum anderen wegen der Tatsache, dass ihr Fruchtfleisch bei Erhitzen innerhalb einer Minute zu leckerem Mus wurde. Und als ich Fanni mal wieder besuchte, fragte ich ihren Vater, ob er in seinen Obstplantagen denn auch Bramleys habe. „Jo freili“, bekam ich beschieden. Ich hatte natürlich darauf gehofft, welche angeboten zu bekommen (gerne selbst geerntet), aber damit endete unser Austausch.
Ich musste an den alten Herrn denken, der sich laut Fanni nie im Leben die Zähne geputzt hatte, sondern statt dessen jeden Morgen und jeden Abend einen Apfel aß, und der doch nie einen Zahnarzt gebraucht habe – als ich das Buch Brandts Apfellust las, Untertitel Alte Apfelsorten neu entdeckt für Garten und Küche. Es war ein Geschenk einer Freundin, die mich gut zu kennen scheint, denn es hat mir großes Vergnügen bereitet, vom Eckhart Brandt erzählt zu bekommen, wie er, der im Alten Land geboren ist, nach dem Studium dorthin zurückkehrte, einen Apfelhof kaufte und sich in die Pomologie stürzte. Die zweite Hälfte des Buches enthält eine Menge Rezepte, von denen ich die Kürbissuppe mit Äpfeln bereits ausprobiert habe – sehr wohlschmeckend. Zudem führt der Anhang auf, welche Apfelsorten für welche Gebiete Deutschlands typisch sind, weil sie sich gut an die dortigen Böden und das Klima angepasst haben. Und ich habe gelernt, dass die Sorte Elstar schuld an der Ausrottung der Sortenvielfalt ist und werde sie künftig noch bewusster meiden. Denn ich erinnere mich noch, wie die alte Hausmeisterin mit einer großen Tüte Äpfel vor unserer Tür stand (man kennt uns als die Wohnung, aus der es immer wieder nach Essen riecht): Sie sei bei Bekannten am Bodensee gewesen, wo sie ganz frisch geerntete Äpfel aus der dortigen Plantage mitbekommen hätte, und wir wollten doch sicher auch welche. Die Früchte schmeckten nach original gar nichts.
Mir tut es immer noch um die alten, verschiedenen Apfelbäume im Garten der Bruder-Schwiegerleute leid, deren Ernte zum Teil bei mir landete und die immer mit Gebrauchsanweisung versehen war: Die einen machte man am besten zu Mus, die nächsten sollte man möglichst schnell aufessen, andere wieder erst noch ein paar Wochen kühl und dunkel lagern, bevor sie Geschmack bekamen. Die Bäume mussten dem Eigenheim der jüngeren Tochter weichen.
Vorsichtshalber ein Hinweis an überzivilisierte Stadtkinder wie ich eines bin: Jetzt ist bei uns Apfelzeit.
Und eine Empfehlung: Kaufen Sie auf Märkten bei den Bauern ein, am besten verschiedene Sorten. Probieren Sie sich durch, es ist unglaublich, wie verschieden Äpfel schmecken können.
Mein momentaner Liebling, gekauft beim Basitsch in Augsburg: Santana, allerdings keine alte Sorte.
Als Dreingabe ein elaborierter Kochkalauer, selbst zubereitet vom Mitbewohner:
Kochmut kommt vor dem Abfall.