Geiz killt Sozialstaat
Dienstag, 12. September 2006 um 12:32Ich find ihn weiterhin klasse, unseren Sozialstaat. Klar fallen mir viele Ecken und Winkel ein, an denen man ihn verbessern könnte. Aber ich bin mir sehr bewusst, dass ich bei Hautkrebs nicht erst mal auf mein Konto schauen muss, dass ich mich nach einem Zusammenbruch meines Arbeitgebers nicht mit dem Hut in die Sendlinger Straße stellen muss, dass ich selbst bei völliger Arbeitsunfähigkeit nicht meinen Eltern den Lebensabend belasten muss.
Das Bewusstsein über diesen Sozialstaat macht mich sehr wütend auf seine Feinde – und das sind nach meiner Überzeugung in erster Linie die Ich-bin-doch-nicht-blöd-Schnäppchenjäger. Ich habe mich hier schon mal darüber ausgelassen. Sehr viel sauberer und ausführlicher hat das Gabor Steingart bei Spon getan: „Dolchstoß durch den Konsumenten.“
Wir nehmen gern die getrennten Betriebstoiletten in Anspruch, die unsere Arbeitsstättenverordnung für Mann und Frau vorsieht, akzeptieren die gesetzlich festgeschriebenen Urlaubstage, den Kündigungs- wie den Krankheitsschutz, und wenn alles schief läuft im Leben, greifen wir auf die Sozialhilfe zurück, die sich samt Wohnungs- und Kindergeld bis auf die Höhe eines Verkäufergehalts summieren kann.
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Man kann den Sozialstaat einfach ignorieren, zum Beispiel dadurch, dass man beim sozialstaatsfreien Anbieter in Asien bestellt. Das ist fast automatisch ein Votum gegen getrennte Toiletten und ein Plädoyer für niedrigere Löhne.
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Wo auch immer ihr politisches Herz schlägt, links oder rechts, kaum dass die Kunden den Supermarkt oder das Kaufhaus betreten, sind sie nicht bereit, einen Sozialaufschlag zu zahlen. Der normale Käufer bei Karstadt, Metro und Lidl ist ein regelrechter Globalisierungsfanatiker, der Preis und Leistung vergleicht, aber nicht Nationalitäten und ihre sozialen Sicherungssysteme. Er will Rabatte bekommen und nicht Aufschläge zahlen. Der gute Deal interessiert ihn, nicht das schmutzige Geschäft, das ihm irgendwo auf der Welt vorausgegangen ist.
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Mit jedem Kauf eines fernöstlichen Produkts erteilen die Käufer dem heimischen Sozialkartell und seinen Lieferbedingungen eine Absage. Sie vergleichen Preis und Leistung des Produkts, aber sie bedenken nicht Preis und Leistung der das Produkt erzeugenden Nation. So wurden die Konsumenten in allen Ländern des Westens zu Vollstreckern der Globalisierung. Im Weltkrieg um Wohlstand sind sie die wichtigsten Kombattanten der Angreiferstaaten. Wenn ihnen keiner in die Arme fällt, vernichten sie mit ihrer Kaufentscheidung kühlen Herzens die heimische Industrie. Denn fast alles, was man kaufen kann, kann man mittlerweile auch ohne diesen Zusatzstoff erstehen, den wir Sozialstaat nennen.
Eigentlich lauter Binsen und Banalitäten, möchte man meinen. Anscheinend aber für die meisten Menschen, die vom Sozialstaat profitieren, noch zu kompliziert. Parallelen zum Billigpreis-Nährboden für Gammelfleisch sehen sie vermutlich auch nicht.
Nachtrag: Bin ja selbst auch kaum besser, fällt mir da ein. Aber da war ich mit der Tüte voll H&M-Zeugs (fünf Teile für etwa 70 Euro, Schnäppchen!!) längst zuhause, als mir das klar wurde.
die Kaltmamsell8 Kommentare zu „Geiz killt Sozialstaat“
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12. September 2006 um 13:17
Nach ihrer Logik müsste man mit dem Hautkrebs zu einem Arzt in den USA gehen, der dem Patienten $ 700 abgknöpft – nachdem der Patient ihn von $ 1000 runtergrhandelt hat. Mal grob überschlagen: Denn der Vertragsarzt der Krankenkasse bekommt für die gleiche Leistung in Deutschland 355 EBM-Punkte, 50 für die Konsultation, 235 für die Beratung, 2280 als Zuschlag, 2285 für regionale Anästhesie, post-Op Befundbespprechung 235. Mach zusammen bei sehr grosszügigen 0,05 Euro/Punkt (5440 Punkte) = 272 Euro + ein paar Euro für die Histologie.
Es ist zu leicht, den Wert einer Leistung und eines Produktes nach seinem Marktpreis zu bestimmen. Denn auch Globalisierungsgegner sprechen sich dafür aus, für 3.Welt- und Schwellenländern Handelbeschränkungen, auch im Agrarbereich, aufzuheben, um so zur Armutsbekämpfung beizutragen. “Kauft deutsch” (ohne ihren Beitrag so verstanden zu haben) ist keine Lösung in der globalisierten Welt.
12. September 2006 um 13:41
In den USA gab mal (gibt es noch?) eine “Buy american!”-Kampagne…
12. September 2006 um 15:42
@Jörg: wobei mich mal die gesamten Verwaltungs- und Bürokratiekosten interessieren würden, die da pro Punkt noch zusätzlich anfallen. Zählt man eigentlich eine gesetzliche Krankenkasse, in die man jeden Monat einen einkommensabhängigen, zweckgebundenen Beitrag einzahlt, zum Sozialstaat? Vielleicht wären bessere Systeme denkbar, etwa eine Art freiwillige Genossenschaft oder privat/genossenschaftliche Mischmodelle?
12. September 2006 um 15:47
Es stimmt, unser Sozialstaat wird von vielen zu gering geschätzt.
Was allerdings dooce angeht, ist sie für die Behandlungskosten mitverantwortlich. Wäre sie zur Vorsorge gegangen, anstatt jahrelang mit der Ahnung herumzulaufen, dass mit der Stelle am Arm irgendetwas nicht stimmt, wären sie nicht entstanden.
Hautkrebsprävention (20 bis 45 €) muss aber auch in unserem Sozialstaat vom Patienten selbst getragen werden. Ich will sagen, hier wie dort ist ein gewisses Mass an Eigenverantwortung notwendig. Hier ist man durch das soziale Netz vielleicht eher dazu geneigt, sie abzugeben, das ist die ewige Kehrseite.
12. September 2006 um 16:51
Was nichts kostet, ist nichts wert….Dieser Omaspruch stimmt und stimmt nicht. Wenn ich daran denke, wieviel Bildung und Ausbildung es bei uns gibt, hoch subvensioniert und fast für lau. Sie ist viel wert, sonst hätten wir nicht diese hochkomplexe Industrie, berühmt für Qualität und hohes Niveau.Nur bilden wir viele Wissenschaftler aus, und machen ihnen dann an den Unis das Leben nicht gerade leicht. Wenn die Spitzenleute in die USA gehen, ist das kein Wunder.
Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, und es ist praktisch für jeden zugänglich. Und es wird für selbstverständlich gehalten.
Wir haben wunderbare Prdukte aus der Landwirtschaft. Welches Land hat so viel ökologischen Landbau und die Verkaufsstruktur dazu? Man rennt zu den Discountern.Und so sind unsere Lebenshaltungskosten europaweit die niedrigsten.
Ich bin dazu übergegangen , Leute, die am lautesten gegen die Globalisierung wettern, zu fragen, wo sie Essen kaufen, wo ihre Kleidung und welches Auto sie fahren. Konsequent ist keiner, und so braucht man nicht klagen, dass bei uns die Abreitsplätze weniger werden.Selber Schuld!
12. September 2006 um 20:48
Dieses sogenannte Gesundheitssystem, das beste der Welt, ist schon lange nicht mehr für jeden praktisch zugänglich. Wer heute richtig und ernsthaft erkrankt erhält mitnichten eine Sofortversorgung. Auf eine Mamographie fast drei Monate warten zu müssen, das ist heute in Deutschland keine Seltenheit. In der Zeit kann ein Carzinom schon zum Endkampf aufgerufen haben.
Ich weiß nicht, ob denen die Arbeit haben klar ist, wie die Krankenversorgung derjenigen heutzutage aussieht, die keine Arbeit haben. Wer im Schnitt von € 345 nach Abzug aller anderen Kosten wie Strom, Gas, Telefon etc. € 130 im Monat noch übrig hat, um den Kühlschrank zu füllen (was schon verdammt wenig ist, um davon vier Wochen zu leben), der kann davon kaum noch Praxisgebühren, Verkehrstickets und Medikamente bezahlen.
Frei Arztwahl? Sieht bei Arbeitslosen so aus, dass sie die in der nächsten Umgebung wählen, damit sie im Winter zu Fuss hingehen können im Ernstsfall, weil ab Mitte des Monats kein Geld mehr für die öffentlichen Verkehsmittel da ist.
Medikamente? Ich z. B. laufe seit zwei Jahren mit Hüftschmerzen herum, weil ich die Medikamente, die mir helfen, nicht mehr verschrieben werden und ich die € 30,– im Monat dafür nicht habe.
Zahnprophylaxe alle sechs Monate, um z. b. meine eigentlich sehr gepflegten und gut in Schuss gehaltenen Zähne bis ins mein 80. Lebensjahr zu halten? Die 60-80 Euro sind längst nicht mehr drinnen.
Leberfleckenganzkörperkontrolle? Hält meine Hautärztin für sinnvoll, das Geld habe ich aber nicht.
Selbst, wenn morgen bei mir eine Krankheit festgestellt werden würde, die eine dringliche Operation notwendig machen würde. Habe ich das Krankenhausgeld? Nein!
Kann ich die 2 % Eigenanteil von meinem Nettoverdienst zahlne bis mir seitens der Kasse eine Befreiung ausgesprochen wird? Nein, eigentlich ist dieses Geld nicht da. Ich könnte allenfalls bei Freunden Schulden machen, um die mir notwendige Pflege in Anspruch zu nehmen.
Brille: Ich z.B. habe seit Geburt eine Sehschwäche, die mich halbseitig beinahe blind sein lässt (Sehfähigkeit rechts ca. 4 %). Ich merke mit zunehmenden Alter klopft bei mir die übliche Alterssehschwäche an. Habe ich mal eben € 230 für neue Brillengläser? Nein. Ich laufe also seit mehr als sechs Monate mit einem Schleier auf meinem einen sehfähigen Auge herum.
Der Sozialstaat im Bereich Krankenversorgung in Deutschland sieht mittlerweile so aus. Und ist damit mitnichten mehr gut, noch toll, noch großartig. Es sind einfach sehr viele Deutsche bereits aussen vor. Ich glaube von anderer Seite z. B. den Bericht eines Arztes zu hören, wird noch viel härtere Fälle zum Vorschein bringen.
Und ja, ich würde gerne gutes deutsches genfreies biologisch angebautes Gemüse und Obst auf meinen Speiseteller packen. Die Frage ist, wieviele Deusche können sich überhaupt noch täglich frisches Obst auf den Teller legen? Ich schon lange nicht mehr. Gerne würde ich in Deutschland produzierte Kleidung kaufen. Die aber kaufe ich auch schon lange nicht mehr. Und wenn ich mir mal wirklich wieder ein paar Slips oder eine Jeans leihe, weil die, die ich seit zwei Jahren nur trage mir vom Leib fällt, dann sind es die Slips, die so gut wie nix kosten und die Jeans, die ich für 10 Euro kriege, über deren chemischen Anteile ich mir besser keine Gedanken machen genauso über die Tatsache, das die vermutlich von Kinderhänden gefertigt wurden.
Dem Großteil ist schon klar, woran die deutsche Wirtschaft krankt. Der Großteil der Deutschen würde auch sehr gerne die Wirtschaft seines Landes unterstützen. Es gibt aber einen Großteil der Deutschen, die können sich das wirklich nicht leisten. Und das hat nichts mit Ignoranz und Geiz ist geil zu tun …
13. September 2006 um 15:24
Heute den Spiegel-Titel gelesen. Darin fordert der Autor ja auch die Politik (und Interessenverbände wie Gewerkschaften) zum Handeln auf – in Abkehr der gegenwärtig herrschenden Meinung, die Auswirkungen der Globalisierung seien quasi gottgegeben. Vielleicht müßte man den Fernostprodukten doch so eine “Sozialsteuer” aufdrücken – wenn die betreffenden Staaten schon nicht selber für soziale Sicherung (und damit Verteuerung von Arbeit) sorgen…
13. September 2006 um 18:33
Herr kid, den Artikel lese ich auch gerade. Er beeindruckt mich sehr.