Neue Regeln für Journalismus?

Mittwoch, 13. Dezember 2006 um 10:56

„Ich will nur fröhliche Musik“ heißt die Reportage von Bartholomäus Grill, die dieses Jahr mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet wurde und sich um Sterbehilfe dreht.
Ein wichtiges, kontroverses Thema. Ein emotional nahe gehender Artikel, gattungstypisch am Einzelfall beschrieben.

Das Unbehagen, das mich beim Lesen der Geschichte beschlich, hat allerdings nichts mit dem heiklen Thema zu tun, sondern mit der journalistischen Technik der Reportage: Die ist löchrig wie eine Hauswand im Zentrum von Baghdad. Grill gibt keinerlei Quellen an.
Der Artikel ist geschrieben wie eine Kurzgeschichte mit auktorialem, also allwissendem Erzähler. In der Fiktion ist das gar kein Problem: Der Erzähler kann sich als Schöpfer der Geschichte so omniscient darstellen wie er will. Im Journalismus, dachte ich, braucht es Belege.

Zunächst erweckt Grill den Eindruck, er habe den Protagonisten des Artikels, Urban, selbst begleitet:

Urban steht noch einen Augenblick in der Hofeinfahrt, ein warmer, bernsteingelb leuchtender Spätherbsttag. Er trägt seinen schwarzen Ledermantel, hat seine Sonnenbrille auf. Er schaut sich noch einmal um. Das Bauernhaus. Der Obstanger. Der Hühnerstall. Der Getreidespeicher mit dem leeren Storchennest auf dem Dachfirst. Dann steigt er ins Auto. Seine letzte Reise beginnt, die Reise in den Tod, von Oberbayern in die Schweiz, nach Zürich, zu den Sterbehelfern von Dignitas. Es ist 8.35 Uhr morgens, am 25. November 2004, als das Auto in die Bundesstraße 15 einbiegt. Urban weiß, dass er in ungefähr dreißig Stunden tot sein wird.

Doch dann geht es weiter:

Der Tag, an dem er die Reise ohne Wiederkehr beschlossen hat, war der 30. Oktober. Er war mit seiner Schwester in Augsburg gewesen, bei einem Heilpraktiker, der mit biologischen Zytostatika arbeitet, mit »einzigartigen Mitteln«, wie er betonte.

Und da stutzte ich: Woher weiß Grill das? Urban ist tot, der kann es ihm nicht erzählt haben. Aber wer dann? Hat er den Mann seit Jahren begleitet? So geht es mit aller folgenden Information: Wessen Perspektive ist das? Die des heute toten? Eines Arztes? Die persönliche Perspektive des Bartholomäus Grill? Doch war der überhaupt dabei?

Gegen Ende des Artikels kippt dieser Konflikt ins Absurde, als der Autor an zwei Orten gleichzeitig zu sein scheint: Bei Dignitas in der Nähe von Zürich und im Heimatort des Totkranken.

Die Geschwister sind fassungslos, aufgewühlt, am Rande des Verzagens. Sie halten sich fest am unerschütterlichen Gleichmut ihres Bruders. Er lehnt am Auto und blinzelt in das schwache Licht der Novembersonne. Was bedeuten schon sechzig Minuten mehr oder weniger Leben und Leiden? Er bündelt den versiegenden Rest seiner Lebensenergie fürs Sterben.

Daheim, in der Küche des Elternhauses, haben sich zur Todesstunde die Mutter und die nächsten Verwandten versammelt, um gemeinsam mit dem katholischen Diakon einen Rosenkranz zu beten. Auch er verwirft, wie es das Dogma befiehlt, jede Form der Sterbehilfe, es ist eine Todsünde. Doch er verteufelt Urbans Entscheidung nicht und tut, was ein wahrer Seelsorger tut: geistlichen Beistand leisten. Der Barmherzigkeit ist Zürich näher als der Vatikan.

Wieder: Eine Kurzgeschichte darf das natürlich – in einer Reportage ist das mehr als unsauber.

In einem journalistischen Text muss der Autor transparent machen, woher er seine Information hat (selbst wenn er die Identität der Quelle schützt), welche Rolle er als Rechercheur im Geschehen spielt, um seine Glaubwürdigkeit zu sichern. Doch in diesem Fall gibt allein der Vorspann einen kleinen Hinweis auf die Genesis der Geschichte:
„In den letzten Stunden gibt er den Geschwistern Kraft und bittet sie, seine Geschichte aufzuschreiben.“

Heißt das, alles Geschilderte basiert auf den Aussagen der Geschwister? Hat Grill die sachliche Korrektheit der Aussagen überprüft? Dann bestünde die journalistische Sorgfalt darin, das klar zu machen und zu belegen, von welchem Geschwister welche Information kommt.

Ich war sehr verwundert über die hohe journalistische Auszeichnung.

die Kaltmamsell

9 Kommentare zu „Neue Regeln für Journalismus?“

  1. duden meint:

    Der Tote ist Grills Bruder. Ich finde auch, dass er das hätte deutlicher machen müssen.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Wenn das so ist, duden, wäre die Information essentiell gewesen. Dann wäre ein “ich” als Autor die sauberste Lösung gewesen.

  3. duden meint:

    Meine Meinung. Allerdings hat er´s wohl zumindest der Kisch-Jury gegenüber dann offengelegt. Sonst hätte er den Preis imho nicht bekommen dürfen.

  4. creezy meint:

    Nö, ich kann die Kritik als solche nicht ganz nachvollziehen. Wenn man dem Urbegriff (nicht dem was daraus inflationär gemacht wurde) „Reportage“ folgt, dann hat der Mann alles in sich richtig gemacht.

    Wie er zu den Inhalten der Reportage gekommen ist, das sollte natürlich bekannt sein, muss aber nicht zwangsläufig in der Reportage selber erklärt werden. Ergeben sich aber daraus Fragen, sollten diese sehr wohl vom publizierenden Medien an die Seite gestellt werden. Möglicherweise hat „Die Zeit“ das hier versäumt? (Beim Stern sah das ein wenig anders aus.)

    Ich darf mal zitieren vom Zugang zu der Geschichte: „Urban ist 46, ihn erwartet ein qualvoller Tod. Er wählt die Sterbehilfe und lässt sich nach Zürich fahren. In den letzten Stunden gibt er den Geschwistern Kraft und bittet sie, seine Geschichte aufzuschreiben.“

    Ab hier war mir klar, wer die Geschichte aufschreibt, eines der Geschwister. Das wird auch später im Text unterstützt, wenn vom (älteren) Bruder, der sterbebegleitet erzählt wird. Nun, sicher haut diese Reportage einem die Fakten nicht permanent offensichtlich an den Kopf, der Leser muss schon den Informationen mit etwas Sachverstand selber folgen. Das ist aber für mich keine Schwäche des Autoren.

    Die ist für mich einzig an der Stelle der Erzählung wo beschrieben wird, was zum Zeitpunkt der Sterbestunde an einem anderen Ort geschieht zu finden – das ist der geographische Sprung ganz klar nicht besonders gut in dem Text integriert.

  5. Chris K. meint:

    Eigentlich geht so etwas gar nicht. Wenn ich eine Reportage lesen möchte, dann lese ich eine Reportage. Wenn ich eine Erzählung lesen möcte, dann lese ich eine Erzählung. Wenn sich die beiden stilistisch annähern, wie hier, dann bekommen wir bald wieder diesen unsäglichen Borderline-Journalismus, wo man schon mal was dazuerfinden darf, wenn’s einem gerade in den Kram paßt. Nee, so packend und gut das Teil geschrieben ist, so geht’s nicht, meiner Meinung nach.
    Aber wenn ich etwas kategorisch ablehne, wird es meist zum Trend und setzt sich durch. Je nun.

  6. kid37 meint:

    Tom Kummer hat alles vorausgesehen ;-) (Wie war das noch mit Kischs berühmter “Feuersbrunst-Reportage”? Obwohl, das war ein Metat-Text, da hat er erklärt, wie man das macht.) An die Seite des oben verlinkten Texts gehört wirklich ein Infokasten. Angesichts des Themas kann ich nur vermuten, daß der Autor sich bewußt _nicht_ ins Spiel bringen wollte, weil es nur eine Hauptperson geben sollte – und keine abschweifenden Leservermutungen, wie sich denn der schreibende Bruder dabei gefühlt habe.

  7. Gabriele meint:

    Da gab es nichts offenzulegen. Alle, die an der Publizierung des Textes vor einem Jahr beteiligt waren, wussten, dass Urban der Bruder von B. Grill ist.
    Den Vorwurf, dass es am Ende des Artikel absurd wird, kann ich auch nicht nachvollziehen. Der Autor war zur Todesstunde in Zürich bei seinem Bruder. Daheim haben sich zur selben Zeit die Mutter und die nächsten Verwandten in der Küche versammelt.

  8. die Kaltmamsell meint:

    Der prämierte Text, Gabriele, enthält die Information der verwandtschaftlichen Beziehung nicht. Und um diesen Text geht es.
    Am Ende des Textes war der Schreiber auf die Informationen Dritter angewiesen, deshalb fehlt mir: “so erzählt die Mutter / der Diakon / die Tante später”. Der Text erweckt den Eindruck, Grill habe beide Szenen mit eigenen Augen gesehen. Das ist absurd.

  9. arboretum meint:

    Narrative Journalism. Leider hat dieser Tom Kummer den in Verruf gebracht.

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