„Ich will nur fröhliche Musik“ heißt die Reportage von Bartholomäus Grill, die dieses Jahr mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet wurde und sich um Sterbehilfe dreht.
Ein wichtiges, kontroverses Thema. Ein emotional nahe gehender Artikel, gattungstypisch am Einzelfall beschrieben.
Das Unbehagen, das mich beim Lesen der Geschichte beschlich, hat allerdings nichts mit dem heiklen Thema zu tun, sondern mit der journalistischen Technik der Reportage: Die ist löchrig wie eine Hauswand im Zentrum von Baghdad. Grill gibt keinerlei Quellen an.
Der Artikel ist geschrieben wie eine Kurzgeschichte mit auktorialem, also allwissendem Erzähler. In der Fiktion ist das gar kein Problem: Der Erzähler kann sich als Schöpfer der Geschichte so omniscient darstellen wie er will. Im Journalismus, dachte ich, braucht es Belege.
Zunächst erweckt Grill den Eindruck, er habe den Protagonisten des Artikels, Urban, selbst begleitet:
Urban steht noch einen Augenblick in der Hofeinfahrt, ein warmer, bernsteingelb leuchtender Spätherbsttag. Er trägt seinen schwarzen Ledermantel, hat seine Sonnenbrille auf. Er schaut sich noch einmal um. Das Bauernhaus. Der Obstanger. Der Hühnerstall. Der Getreidespeicher mit dem leeren Storchennest auf dem Dachfirst. Dann steigt er ins Auto. Seine letzte Reise beginnt, die Reise in den Tod, von Oberbayern in die Schweiz, nach Zürich, zu den Sterbehelfern von Dignitas. Es ist 8.35 Uhr morgens, am 25. November 2004, als das Auto in die Bundesstraße 15 einbiegt. Urban weiß, dass er in ungefähr dreißig Stunden tot sein wird.
Doch dann geht es weiter:
Der Tag, an dem er die Reise ohne Wiederkehr beschlossen hat, war der 30. Oktober. Er war mit seiner Schwester in Augsburg gewesen, bei einem Heilpraktiker, der mit biologischen Zytostatika arbeitet, mit »einzigartigen Mitteln«, wie er betonte.
Und da stutzte ich: Woher weiß Grill das? Urban ist tot, der kann es ihm nicht erzählt haben. Aber wer dann? Hat er den Mann seit Jahren begleitet? So geht es mit aller folgenden Information: Wessen Perspektive ist das? Die des heute toten? Eines Arztes? Die persönliche Perspektive des Bartholomäus Grill? Doch war der überhaupt dabei?
Gegen Ende des Artikels kippt dieser Konflikt ins Absurde, als der Autor an zwei Orten gleichzeitig zu sein scheint: Bei Dignitas in der Nähe von Zürich und im Heimatort des Totkranken.
Die Geschwister sind fassungslos, aufgewühlt, am Rande des Verzagens. Sie halten sich fest am unerschütterlichen Gleichmut ihres Bruders. Er lehnt am Auto und blinzelt in das schwache Licht der Novembersonne. Was bedeuten schon sechzig Minuten mehr oder weniger Leben und Leiden? Er bündelt den versiegenden Rest seiner Lebensenergie fürs Sterben.
Daheim, in der Küche des Elternhauses, haben sich zur Todesstunde die Mutter und die nächsten Verwandten versammelt, um gemeinsam mit dem katholischen Diakon einen Rosenkranz zu beten. Auch er verwirft, wie es das Dogma befiehlt, jede Form der Sterbehilfe, es ist eine Todsünde. Doch er verteufelt Urbans Entscheidung nicht und tut, was ein wahrer Seelsorger tut: geistlichen Beistand leisten. Der Barmherzigkeit ist Zürich näher als der Vatikan.
Wieder: Eine Kurzgeschichte darf das natürlich – in einer Reportage ist das mehr als unsauber.
In einem journalistischen Text muss der Autor transparent machen, woher er seine Information hat (selbst wenn er die Identität der Quelle schützt), welche Rolle er als Rechercheur im Geschehen spielt, um seine Glaubwürdigkeit zu sichern. Doch in diesem Fall gibt allein der Vorspann einen kleinen Hinweis auf die Genesis der Geschichte:
„In den letzten Stunden gibt er den Geschwistern Kraft und bittet sie, seine Geschichte aufzuschreiben.“
Heißt das, alles Geschilderte basiert auf den Aussagen der Geschwister? Hat Grill die sachliche Korrektheit der Aussagen überprüft? Dann bestünde die journalistische Sorgfalt darin, das klar zu machen und zu belegen, von welchem Geschwister welche Information kommt.
Ich war sehr verwundert über die hohe journalistische Auszeichnung.