„Eine tantenarme Welt“ nennt Axel Hacke in seiner heutigen SZ-Magazin-Kolumne die unsere. Und Recht hat er: Es hat sich systematisch ausgetantet.
Gleich nachdem Neffe 1 zur Welt kam, fragten mich seine Eltern, ob der Bub mich dereinst mit „Kaltmamsell“ oder „Tante Kaltmamsell“ ansprechen solle. Einfache Entscheidung, selbstverständlich „Tante Kaltmamsell“ – wer sonst bitte sollte mein Tantentum sonst kommunizieren? Außerdem sah ich den Titel als beruhigenden Abstandhalter.
Später erst wurde mir klar, dass die Frage der Eltern als Spaß gemeint war; sie waren davon ausgegangen, dass niemand auf der Welt mit „Tante“ adressiert werden will und brachten das ihren mittlerweile beiden Söhnen und einer Tochter entsprechend nicht bei. Alle drei reden mich also mit Vornamen an und sind der Chance beraubt, eine Tante zu haben.
Allerdings kenne ich das alle Frauen umfassende Tantentum, wie es Herr Hacke beschreibt, selbst nicht. Die Erklärung einer Freundin meiner Mutter, sie sei die „Tante Marianne“ soll ich als Dreijährige mit einem humorlosen „aber du bist doch gar nicht meine Tante“ kommentiert haben. Und in einer Zeit, als in meinen Breiten Kindergärtnerinnen noch durch die Bank mit „Tante“ tituliert wurden (das war sogar die inoffizielle Berufsbezeichnung: „Kindergartentante“), ging ich auf einen für bayrische Verhältnisse liberalen Kindergarten, in dem die Damen „Fräulein“ genannt wurden.
Die allumfassende Verwandtschaftsbeziehung, mit der hingegen ich bis heute fertig werden muss, ist die Vetternschaft (siehe Asterix bei den Olympischen Spielen). Wenn wir die weitläufige Familie meines Vaters in Spanien besuchten, gab es Oma, Tante (Großtanten eingeschlossen), Onkel (inklusive Großonkel) – der gesamte Rest war Kusin (primo) oder Kusine (prima). Der Erstkontakt mit selbigen war immer feucht, denn er verlief gewöhnlich so: Meine Eltern, mein Bruder und ich betraten ein Haus / spazierten ein nordkastilisches Gässchen entlang / standen im Tante(!)-Emma-Laden des Dorfes, und scheinbar aus dem Nichts fiel mir ein Mensch im Alter zwischen 18 und 58 um den Hals, gab enthusiastische Laute von sich und knutschte mein Gesicht ab. Unterhalb dieser Altersgrenze waren die Menschen meist zu cool, darüber nicht mehr so enthusiastisch. Wenn ich bei der nächsten Gelegenheit meinen Vater fragte, wer das bitte war, setzte er zwar hin und wieder an, die genaue Verwandtschaftsbeziehung zu erklären, doch entweder ich hörte ihm ab der dritten Ecke nicht mehr zu oder er wusste ab der vierten Ecke nicht mehr weiter – es endete sowieso immer in tu primo oder tu prima. Am individuellsten ist mir noch primo Pepe in Erinnerung, ein Sohn eines Onkels mütterlicherseits meines Vaters, mit dem mein Vater in seiner Jugend wohl reichlich Schabernack getrieben hat: Nicht nur besuchten wir primo Pepe eigentlich bei jedem Spanienaufenthalt auf seinem riesigen, modernen Bauernhof, brachten Geschenke mit, wurden über Stunden mit allerlei landwirtschaftlichen Produkten verköstigt (wenn Sie mal in der Gegend sind, unbedingt morcilla probieren) – er und mein Vater warfen sich auch ständig kryptische Halbsätze zu und lachten dann ungeheuer dreckig.