Jedem sein Web
Montag, 10. Dezember 2007 um 8:40Herr Graff von der Süddeutschen (der Text füllte die Titelseite der sonntäglichen Feuilleton-Beilage) nutzt das World Wide Web also dazu, Mist zu lesen, Defätistisches, Poesiealben, Denunziationen, Fehlinformationen, Verächtlichmachung – also all das, was ich nicht anschaue. Ist wohl einfach ein anderer Typ Leser als ich; ich gehe ja auch nicht an den reich ausgestatteten Zeitungskiosk am Münchner Bahnhof, um mir Praline, Bild, Frau im Spiegel oder Ein Herz für Tiere zu holen. Aber: Dies ist ein freies Land, und ich habe schon vor einiger Zeit gelernt, dass es tatsächlich Menschen gibt, die gezielt nach Buchstaben greifen, über die sie sich echauffieren können – mutmaßlich, weil ihnen das ein Gefühl großer Überlegenheit verleiht.
Ich wiederum nutze das Web, übrigens welcher Seriennummer auch immer, für Folgendes:
– Ich lese die Sicht eines Musikwissenschaftlers auf den eben verstorbenen Stockhausen.
– Schaue Herrn Martenstein (und seinem blauen Toaster) zu, wie er einen Angriff der SZ auf genau solche Videos (und blaue Toaster) pariert. (Lerne bei dieser Gelegenheit, dass Ijoma ein Männername ist.)
– Lasse mich vom Nachruf bewegen, den eine Schweizerin auf ihren wundervollen Großvater, einen Bauern, verfasst hat.
– Folge einem reich bebilderten Plätzchentest in Frankfurt, der Franken schlecht aussehen lässt.
– Freue mich schon darauf, Zeit für den Bericht des Brautführers über die südtiroler Hochzeit der Schwester zu finden.
Mich persönlich reizt an diesen Inhalten weiterhin, dass sie subjektiv sind und mir durch diese persönliche Perspektive Einblicke geben, die ich in den offiziellen Medien nicht finde. Wie ein Bernd Graff aber auf die Idee kommt, irgendeiner der Menschen dahinter wolle “Produktionsbedingungen für Medien diktieren und Meinungsführerschaft beanspruchen”, habe ich nicht herausgefunden.
(Und wer aus dem Bahnhofskiosk nur mit Praline, Bild, Frau im Spiegel und Ein Herz für Tiere unter Arm rauskommt, sollte wissen, dass das mehr über ihn als über den Kiosk aussagt.)
die Kaltmamsell20 Kommentare zu „Jedem sein Web“
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10. Dezember 2007 um 9:12
ja, die subjektivität ist groß in der welt der blogschreiber: nur im gegensatz zu medien wie der sueddeutschen muß man vielfach lange suchen, bis man zu etwas veröffentlichtem n i c h t sagen muß “was wollen mir diese worte sagen??” es gibt ein bißchen sehr viel vom schlage”schaut, wie schön ich mich im hamsterrädchen drehe!”
da lobe ich mir dann doch meine zeitung, zumal man sie so schön überallhin mitnehmen kann..in die zimmerecke, in die gerade die sonne reinscheint z.b.(vielleicht scheint sie ja mal wieder)
10. Dezember 2007 um 9:17
Sehen Sie, groebeswelt, ich muss nie lange suchen. Was uns das wohl sagen will? Vermutlich, dass Sie tatsächlich besser beim Zeitungslesen bleiben sollten.
10. Dezember 2007 um 11:09
Der Herr Graf bekommt sein Geld von der Süddeutschen Zeitung und so schreibt er dann auch…
Das ist ja gar nicht alles so falsch, was er da schreibt. Manches ist aber schon ein Schmarrn.
Sicherlich ist das Web und was darin zu finden ist, ein Spiegelbild seiner Teilnehmer, aber ich möchte es nicht missen, eher die SZ…
10. Dezember 2007 um 11:28
“Die etablierten Medien verfügen über rigide Aufnahmeverfahren und praktizieren bei journalistischem Fehlverhalten im besten Fall Sanktionierungen.”
Gut, jetzt weiß ich auch, dass “BILD” genausowenig wie deren österreichisches Pendant, die “Kronen-Zeitung” zu den etablierten Medien gehört.
10. Dezember 2007 um 12:04
Nachtrag:
Und von wegen Poesiealben. Für diese schnöselige Stichelei gegen blogger/innen gehört ihm eins hinter die Löffel gehauen.
Ihr Poesiealbum ist eines der geistreichsten, nettesten und unterhaltsamsten.
Bin ja selbst kein Blogger, sondern einer von diesen ganz schlimmen, die irgendwo altklug ihren Senf dazu geben und dann wieder weg sind.
Aber ich erlebe an meiner Frau, die seit dem Frühjahr ihr Internetagebuch schreibt, ohne damit die Welt bewegen zu wollen, wie schön das für sie, für mich und alle umstehenden ist. Es wird keiner davon belästigt, beeinflußt, zugetextet oder sonstwas.
10. Dezember 2007 um 12:43
Nu, Kaltmamsell, was willst Du, der Mann benutzt noch eine Maus mit Mauskabel… ;-)
Muß das schön sein, sich so schlau zu fühlen und alle anderen sind doof. Ach, und dann mal so richtig vollmundig vom Leder ziehen! Sollen sich ordentlich schämen, diese subjektiven, ahnungslosen Gratis-Blogger.
Und zum Thema “Demütigung des Hausarzts”: ohne Internet hätten wir die Klinik in den USA nie gefunden, die einem geliebten Menschen noch fast zwei Jahre lebenswertes Leben ermöglichten, als die deutschen Ärzte nur meinten, “Sie haben noch ein paar Monate, gehen Sie viel spazieren”.
Und als neulich meine Mutter eine Angehörige im Krankenhaus besuchte und den Arzt fragte, was hat sie denn nun?, zog der einen Zettel aus der Tasche, kritzelte den Namen eines Virus drauf und meinte, “googeln Sie´s mal nach”.
Sooo schlimm können sich die Ärzte also nicht gedemütigt fühlen von Dr. Google und Wikipedia.
10. Dezember 2007 um 12:53
Vor ein paar Wochen gab es in der Wochenendbeilage der SZ einen “launigen” Beitrag, der sich wortreich empörte, wieviele Worte doch in Blogs zu allem möglichen trivialen Quatsch verloren würden – nur über das Theater fände man nichts. Abgesehen davon, was eine simple Suche wie “blog + theater” zu Tage gefördert hätte (konnte der Autor eventuell das Netz nicht bedienen?) – bei der SZ scheint nackte Angst umzugehen, wenn das Eindreschen auf Blogs so zum Dauerbrenner wird. He, Süddeutsche, so schlimm ist das alles nicht! Ich schreib auch was für euch, wenn ihr mögt.
10. Dezember 2007 um 19:13
“ach gott”, hab ich mir nur gedacht und weitergeblättert. genauso wie gestern in der faz am sonntag als sich ein ähnlich beflissener journalist über wikipedia falschmeldungen ausliess.
denn eigentlich ist mir egal, wo die klugen oder schönen worte stehen.
hauptsache, ich finde sie.
so wie hier.
oft.
10. Dezember 2007 um 20:54
Depp
(ein wahrer Segen, dass er nicht bloggt, bei der langweiligen Schreibe)
10. Dezember 2007 um 21:20
Ich wusste, dass Sie die SZ lesen und ich habe mich auf diesen Blogeintrag gefreut ;-)
Aber dass dieser Unsinn
in den Blogs nicht wesentlich härter kommentiert wird, hat mich ein wenig gewundert. Denn in fast jeder Zeitung kann man heute Artikel finden, die große Zweifel an der journalistischen Qualifikation der Autoren aufkommen lassen.
Und wenn der Satz nicht so realitätsfern wäre, würde ich ihn gern in verständliches Deutsch übersetzen. Die Wendung “sie praktizieren bei journalistischem Fehlverhalten Sanktionierungen” kann ich ohne Bedeutungsverlust in “sie verhängen Sanktionen für journalistisches Fehlverhalten” umwandeln.
“Sie sanktionieren journalistisches Fehlverhalten” ist aber prinzipiell auch möglich, weil es in diesem Kontext eindeutig ist. Die alte Bedeutung von “sanktionieren” spielt ja heute kaum noch eine Rolle.
10. Dezember 2007 um 22:45
Und wie sagte mein alter Chef immer, wenn ihm ein Journalist ganz blöd kam: “Und welches Studium haben Sie nicht beendet ??”
Das ist jetzt ganz gemein und nicht für die Journalisten gedacht, die ihr Studium beendet haben und fundierte Artikel schreiben. Also, die mochte er nämlich.
10. Dezember 2007 um 23:16
Sehr kurios finde ich, dass Graff ausgerechnet YouTube als Positivbeispiel nennt – eine großteils mit kopierten Inhalten gefüllte Seite, deren Kommentarfunktion jenem „Debattierklub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten“ m. E. näher kommt als Blogs.
Allerdings bin ich gerade im Hinblick auf die Nutzung von Kommentarfunktionen, auch und gerade bei deutschen Tageszeitungen, schon verleitet, Graff teilweise zuzustimmen… John Gabriels „GID-Theory“ hat schon ‘was für sich.
10. Dezember 2007 um 23:20
Zunächst mal ein herzlicher Dank für die Links – wenn die Mehrheit der Journalisten so schön schriebe wie eine schweizerische Bauerntochter, wäre ich eine glückliche Zeitungsleserin – und überhaupt für diesen schönen Artikel.
Sodann: ich habe von verschiedenen Journalisten schon so unsäglichen Blödsinn nicht nur gelesen, sondern auch gehört (“Was soll denn Sprache bitteschön mit Kultur zu haben?” war dabei sicher die Krönung, aber das Soziologendeutsch mancher unheimlich progressiver Redakteure ist auch nicht schlecht), daß Herr Graff realitätsfern wirkt – kein gutes Zeichen für einen Journalisten.
11. Dezember 2007 um 9:11
Ich danke meiner treuen Leserin.
11. Dezember 2007 um 10:05
Stefanolix, ich lasse mich auch weiter nicht auf den Zickenkrieg Blogger/Journalisten ein – und das hätte ich, wäre ich auf besagtes Zitat eingegangen. Mir fiel in erster Linie auf, dass Graff zu den Internetlesern gehört, die systematisch nach Mist suchen.
12. Dezember 2007 um 18:53
Danke, liebe Kaltmamsell, für diesen feinen Text.
13. Dezember 2007 um 18:13
Auch danke – von ausgesucht britischer Hinterfreundlichkeit. Kann man so was bei Bedarf bei Ihnen bestellen (rent an answer)?
14. Dezember 2007 um 9:07
ich lasse mich auch weiter nicht auf den Zickenkrieg Blogger/Journalisten ein
Aber… aber… der Bernd hat mich zuerst gehauen!
(Ich versuche ständig, mir Deine Abgeklärtheit zum Vorbild zu nehmen. Und wenn ich schon wegen so eines im Grunde nichtigen Themas meinen ersten Kommentar hier hinterlasse, dann kann ich ja auch gleich noch etwas loswerden, was ich schon lange loswerden wollte. Dass dieses Blog hier nämlich das einzige mir bekannte Blog ist, in dem das Verhältnis von “lesenswertem Inhalt” zu “Inhalt, gesamt” > 1 ist.)
P.S.: Doch, > 1 ist möglich – wenn man die Links berücksichtigt.
14. Dezember 2007 um 13:13
Vielen, vielen Dank für die Lobe.
Ist Ihnen da draußen überhaupt klar, dass ich wegen der Bloggerei meinen Arbeitsplatz als Selbstwertlieferanten deutlich entlasten kann?
14. Dezember 2007 um 14:02
Werte Kaltmamsell
Ist Ihnen da draußen überhaupt klar, dass ich wegen der Bloggerei meinen Arbeitsplatz als Selbstwertlieferanten deutlich entlasten kann?
Ich denke schon, dass das dem ein oder der anderen hier draußen klar ist.
Aber hast Du schonmal versucht, mit ebendieser Begründung Deinen Arbeitgeber zur Übernahme wenigstens eines Teils Deiner Blog-Unterhaltskosten zu bewegen? Oder eine Viertelstunde frei zu bekommen (“Chef, da gibt es jetzt so ein neues Gerichtsurteil… ich müsste dringend mal für eine Viertelstunde Kommentare moderieren”)?