Selbst bei mir Literaturwissenschaftlerin funktioniert der Abschreckmechanismus, Klassiker der Weltliteratur müssten anstrengend zu lesen sein. Dabei weiß ich, dass das bei englischen solchen fast nie gilt, und als ich nach jahrelangem Drumrumschleichen endlich Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaften anging (übersetzt von Franz Blei, ich kann kein Französisch), konnte ich es vor Spaß und Spannung schier nicht aus der Hand legen.
Nun habe ich endlich Feuchtwangers Erfolg gelesen, von dem mich neben seinem Status trotz vieler Empfehlungen die 900-Seiten-Dicke abschreckte. Doch was soll ich sagen: Der Roman ist großartig! In vielen Kapiteln (ich mag Kapitel) erzählt Feuchtwanger aus dem München der frühen 20er; als roter Faden dienen ihm der Prozess und die Haft des Museumsdirektors Martin Krüger, der des Meineids angeklagt und verurteilt wird. Die Handlung wird durch die Beschreibung der am Prozess beteiligten Personen voran getrieben, jedes Kapitel personal aus der Perspektive einer solchen erzählt. Erzählt werden damit auch die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse der Zeit, vieles direkt (Feuchtwanger wollte laut dem Nachwort einen historischen Roman schreiben, auch wenn er die allerjüngste Vergangenheit behandelte), vieles implizit.
Aus diesem Erzählrhythmus fallen ein paar Einzelkapitel eher satirischer Art heraus. In einem stellt Feuchtwanger, unkommentiert und dadurch umso entlarvender, statistische Größen der ganzen Erde aus dieser Zeit nebeneinander, vom Anteil der landwirtschaftliche Beschäftigten über die Anzahl von Selbstmorden in Deutschland bis zur Religionsverteilung in Bayern.
Der große Bogen der Haupthandlung schafft nicht Spannung im eigentlichen Sinn; es sind die immer wieder aufgegriffenen Personen, die mich fesselten. Dazu kommt die Hauptrolle, die das damalige München spielt: Orte wie der Englische Garten, das Müller’sche Volksbad, Karolinenplatz, Feldherrnhalle, Rathauskeller gehören zu meinem Alltag, sogar vom Kocherlball ist kurz die Rede. München, Bayern und seine Bewohner, vor allem aber seine Politiker haben sich in den vergangenen 80 Jahren anscheinend kaum verändert. Auch damals war der naheliegende Vergleich der mit Berlin, das nicht unbedingt besser wegkommt. Einige historische Figuren tauchen sehr erkennbar, wenn auch unter anderem Namen auf, darunter Bert Brecht und Karl Valentin.
Sehr gefallen hat mir Feuchtwangers elegante Sprache, die sich ganz selbstverständlich vieler Bavarismen bedient, ob „damisch“ oder „Lackl“. Sehr bald zu viel wurden mir allerdings seine ständig wiederholten Adjektive in Personenbeschreibungen (soll das an die homerischen epiteta ornantia erinnern?) – als er mir zum 15. Mal Johannas Hände als „großporig“ vor Augen führte, Klenks „langen Schädel“, hätte ich ihn gerne posthum ein bisschen gewürgt. Aber wirklich nur dafür, ansonsten danke ich sehr herzlich für das Verfassen und Veröffentlichen dieses Buches.