“Living in the Islamic Republic is like having sex with a man you loathe” beginnt Kapitel 22 von Azar Nafisis umwerfendem Buch Reading Lolita in Tehran. Im darauffolgenden Absatz erklärt sie diesen Vergleich:
Well, it’s like this: if you’re forced into having sex with someone you dislike, you make your mind blank – you pretend to be somewhere else, you tend to forget your body, you hate your body. That’s what we do over here. We are constantly pretending to be somewhere else – we either plan or dream it.
Das ist nur eine Stelle, von der ich mir sehr sicher bin, dass sie in dem Hörbuch der deutschen Übersetzung nicht vorkommt (ist mir zu anstrengend zu verifizieren). Ich schätze, dass mindestens die Hälfte des Buches für die deutsche Hörbuchfassung gestrichen wurde – man bekommt also ein Listener’s Digest. Nein, das ist definitiv nicht das Buch, nur halt vorgelesen. Ebenso fehlt am Hörbuch der Untertitel “A memoir in books”, aus dem hervorgeht, dass es sich nicht um Fiktion handelt. Ja, das ist wichtig. Oder die Kapitelüberschriften “Lolita”, “Gatsby”, “James”, “Austen”, die den Untertitel berechtigen.
Dabei will ich mich gar nicht in erster Linie über die verlogene Hörbuchfassung beschweren, sondern lieber vom Buch schwärmen. Azar Nafisi ist eine aus Iran stammende Literaturwissenschaftlerin, die nach ihrem Studium in den USA in ihre eben vom Schah befreite Heimat Tehran zurückkehrte, um dort an der Universität zu unterrichten. Das Buch erzählt ihre Jahre dort bis 1997, als sie wieder wegging.
Den Rahmen und roten Faden bildet ein Seminar, das Nafisi in den letzten beiden Jahren bei sich zu Hause gab und für das sie einige besonders literaturwissenschaftlich engagierte Studentinnen ausgewählt hatte. Sie beginnt mit einer Beschreibung der beiden Abschiedsfotos des Kurses – einmal in voller Verschleierung, einmal von den unverschleierten Teilnehmerinnen. Sie beschreibt detailliert jede ihrer Seminaristinnen – und wo mich sonst in Geschichten zu genaue Personenbeschreibungen nerven, haben sie in diesem Fall eine klare Funktion: Nafisi gibt den Frauen damit die Individualität zurück, die der Tschador ihnen nimmt.
An den wöchentlichen Seminartreffen entlang erzählt Azar Nafisi ihre eigene Entwicklung als Dozentin, Bürgerin, Person und die des Iran. Mit den sehr klugen Überlegungen zu den behandelten Romanen sind politische Beobachtungen verwoben, Analysen der erst immer radikaleren Islamisierung, des irak-iranischen Krieges, der ersten Reformen, links und rechts begleitet von Alltag. Dabei verlässt Nafisi nie den leichten und gleichzeitig spannenden Plauderstil, der sie einem direkt gegenüber an den Kaffeehaustisch setzt.
Das Buch, das alle Qualitäten eines hervorragend geschriebenen Romans hat, lebt von dem Kontrast zwischen der Welt der westlichen Romane, die Nafisis Forschungsgebiet darststellen, und dem postrevolutionären Iran / Tehran (ich bleibe mal bei der englischen Schreibweise). Sie hat viel Gespür für die maßlose Komik, die aus der islamischen Diktatur entsteht. Da ist zum Beispiel die Geschichte von der Psychologieprofessorin, die sich der Verschleierung entzieht und sich mit einem eifrigen, dicken Sittenwächter ein Wettrennen quer über den Uni-Campus liefert (noch vor der Zeit, in der die neuen Gesetze mit Gewalt, Folter und Gefängnis durchgesetzt wurden – weshalb ich beim Lesen noch lachen konnte). Oder die wundervolle Seminarstunde während Nafisis Lehrtätigkeit an der Universtität, als sie die Interaktion der Charaktere aus Austens Pride and Prejudice mit einem Tanz der damaligen Zeit vergleicht. Die persischen Studentinnen können sich darunter nichts vorstellen, und so lässt ihre Dozentin sie nach ihren Anweisungen tanzen – elegante englische Tänze vom Anfang des 19. Jahrhunderts, ausgeführt von tief verschleierten Studentinnen in einem Seminarraum der Universität Tehran.
Auch wenn die Geschichten linear vorgeht, sind die verschiedenen Zeitebenen miteinander verflochten; die Tanz-Episode wird zum Beispiel als Erinnerung erzählt – eine der Studentinnen in Nafisis Privatseminar war sich nicht sicher gewesen, ob sie sich mit ihrem fernen Verlobten verstehen würde, und so hatte eine ihrer Kommilitoninnen gemeint, vielleicht sollte sie mit ihm tanzen, um das herauszufinden. Wir erfahren viel über diese sehr verschiedenen Frauen, so, wie Azar Nafisi in den beiden Jahren dieses besonderen Seminars viel über sie erfahren hat. Gleichzeitig entsteht ein sehr lebendiges Bild von Tehran, davon, welch wundervolles Land Iran einmal gewesen sein muss – und es außerhalb des Zugriffs der Machthaber wohl immer noch ist. An vielen Details werden die Auswirkungen einer in Diktatur geendeten Revolution auf unterdrückte Bevölkerungsgruppen geschildert, in diesem Fall vor allem auf Frauen. Und auch wenn die Frauen in diesem Buch es über weite Strecken versuchen – irgendwann hilft ihnen auch das Lachen nicht mehr.
Die englische Buchhandelskette Waterstone’s ist mir unter anderem deshalb sympathisch, weil die Mitarbeiter jeder Filiale ihre eigenen Favoriten präsentieren (mit handschriftlichen Begründungen am Regal). Zudem gibt es Schildchen “life-changing book”. An Reading Lolita in Tehran befestige ich hiermit ein solches.