Der neue Kracht
Dienstag, 30. September 2008 um 7:16Zeitgenössische deutschsprachige Literatur und ich, wir haben’s ja nicht so miteinander. Das liegt, sehr vereinfacht ausgedrückt, daran, dass ich sie im Großen und Ganzen für unbeachtlich halte. Doch gebe ich ihr regelmäßig die Chance, mich eines Besseren zu belehren. Wenn also ein Buch wie Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht derart hysterisch gerühmt wird (u.a. von Gustav Seibt in der Süddeutschen), dann hole ich mir das.
Aha, Science Fiction – so nennen das die Fans des Genres. Wir Literaturwissenschaftlerinnen verwenden gerne das feinere „utopischer Roman“. In diesem Fall aus der Unterabteilung historische Utopie, also ein Roman, der von der Prämisse ausgeht, ein bestimmter wichtiger Abschnitt der Vergangenheit wäre anders verlaufen; ist bereits Topos geworden, diese Unterabteilung ist viele Regalmeter lang – und hauptsächlich englischsprachig. Das meiste davon ist besser als der Kracht-Versuch. Auf knapp 150 Seiten fantasiert Kracht eine heutige Schweiz, in der der Erste Weltkrieg seit 100 Jahren ausgetragen wird und die eine Sowjetrepublik ist. Dadurch sind natürlich viele Details des Alltags anders, einschließlich der Sprache. Wahrnehmungsebenen vermischen sich, es passiert ungeheuer viel ganz schnell und durcheinander. Alles ganz nett, doch ich frage mich, warum Science Fiction sonst in den deutschen Feuilletons als bäbä gilt, und dieser Roman nicht. Eine Stelle winkt sogar rüber zu billigen Krimis. Der Ich-Erzähler findet an einer Hauswand eine rote Schmiererei: „Ich zog den Handschuh aus, kratzte mit dem Fingernagel an der Farbe und roch daran. Es war Schweineblut.“ Yeah. Right.
Ich erinnere mich noch, wie zornig der Mitbewohner über die Anerkennung für den Film Crouching Tiger, Hidden Dragon war: Er mochte seit vielen Jahren asiatische Von-Dach-zu-Dach-spring-Säbelfilme und hatte sich oft deshalb belächeln lassen müssen. Wieso sollte dieser eine Vetreter des Genres plötzlich Kunst sein?
Selbst ohne besonderes Faible für Science Fiction fallen mir auf einen Schlag ein paar Bücher ein, die ich den Kracht-Jublern ans Herz lege („Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat…“):
– Robert Harris, Fatherland (Hitler hat den Krieg gewonnen.)
– Stephen Fry, Making History (Was, wenn Hitler nie geboren worden wäre?)
– Jasper Fford, The Eyre Affair (Unter anderem: Der Krimkrieg ist noch nicht zu Ende.)
– Ray Bradbury, The Martian Chronicles
Blade Runner sollten sie ebenfalls dringend anschauen.
Der Titel des Buches ist eine Zeile aus „Danny Boy“, die genauso unzusammenhängend rumsteht wie so viele Details der Geschichte. Im vorletzten Kapitel heißt es zwar endlich „tönte blechern und wehmütig ein altes irisches Volkslied“ – aber den Zusammenhang mag ich überinterpretieren, denn „Danny Boy“ ist weder alt noch ein Volkslied.
(Der erste Absatz des Romans ist übrigens wirklich gut.)
die Kaltmamsell7 Kommentare zu „Der neue Kracht“
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30. September 2008 um 16:11
Sie sind so praktisch. Ich war auch kurz davor, auf die Jubelarien reinzufallen. Und obwohl mir bis jetzt noch kein Kracht gefallen hat, wollte ich ihm noch eine Chance geben. Jetzt nicht mehr.
30. September 2008 um 16:47
Patrioten, Leyernmärker!
In dem Zusammenhang möchte ich die Bayrische SF von Carl Amery wärmstens empfehlen, z.B. “An den Feuern der Leyernmark”, ein satirischer Parallelweltentwurf, in dem der Deutsche Krieg 1866 von Bayern (der Leyernmark) und dem deutschen Bund/Österreich gewonnen wird.
Auch sprachlich virtuos (üppigster Einsatz von Lokal- und Zeitkolorit, die vielfältigen Stimmlagen und Sprachweisen kann man in Scheiben schneiden und braten).
Leider für SF-Leser zu literarisch und für Literaturleser zu sehr SF.
30. September 2008 um 17:08
Darf ich meckern, so von Literaturwissenschaftlerin zu Literaturwissenschaftlerin? Sowas nennt man meines Wissens eher ‘Dystopie’ oder ‘Alternativwelt’-Roman (sind beides unterschiedliche Genres, Krachts neuer Text paßt meiner Meinung nach auch in alle beide hinein). Utopien (da klingt ja nicht nur der “Nicht-Ort”, sondern auch der “schöne Ort” schon mit) sind für gewöhnlich Texte, die positive Welt-Versionen diskutieren (nicht unbedingt in der Zukunft gelegene; vor der Moderne sind sie eher auf Inseln oder sonstwo in fernen Räumen, weniger in fernen Zeiten angesiedelt).
Ich mag den Text – wohl auch, weil für mich da ganz viel Schmitt, Jünger und Co anklingt. Und das auf eine Art und Weise, die so wunderbar anders ist als der pathetische und immer doch wieder zu dick auftragende Tellkamp, der ja auch gerne mit literarischem Anspruch in diesem Sumpf mardoiert.
30. September 2008 um 18:40
Ich geselle mich mit einem herzlichen “Passau verreck!” (Der Untergang der Stadt Passau, ähnliches Genre) auch zu den Carl-Amery-Freunden.
1. Oktober 2008 um 0:51
Das Schwarze ist es, glaube ich, was den Unterschied macht. Das nervöse, verlorene Timbre, etwas, was es in der etwas streberhaften Gegenwartsliteratur ansonsten kaum gibt. Der Kracht könnte über sonstwas schreiben, es handelte immer von unseren Verlassenheiten, vom Zittern vor dem großen Gewitter und von dem Wert wie der Vergeblichkeit von Schönheit und Würde.
1. Oktober 2008 um 10:48
Soetwas hatte ich fast vermutet. Schön, hier auch mal eine abweichende Meinung zu lesen.
1. Oktober 2008 um 13:39
Ha! Ich muss gestehen, ich saß gute fünf Minuten brütend über der hymnischen Rezension in der “Süddeutschen” und wühlte in meinem Hirn, woher mir der Titel des Kracht-Romans bekannt vorkam, bis es mir dann kam… Auf deutsch klingt es aber einfach nicht gut, wegen des fehlenden iambischen Rhythmus.
In den “History Boys” von Alan Bennett (dessen feine Queen-Novelle jetzt übrigens auch auf Deutsch, noch dazu bei Wagenbach, erhältlich ist! Kaufen, lesen, freuen!) ist eines der Themen die Behandlung (und wissenschaftlich/mediale Ausschlachtung) von “was-wäre-gewesen-wenn”-Momenten. Einer der Schüler erfindet den schönen Begriff “subjunctive history” dafür. Gefällt mir.
Viel Vergnügen in Frankreich auch. Ich war eben am Golf von Neapel und im direkten Vergleich zu Frankreich, wo ich kurz vorher war, sieht der ziemlich schmuddelig und unsympathisch aus, blaues Meer hin oder her. Werde jetzt endgültig frankophil.