Marketing funktioniert

Mittwoch, 5. November 2008 um 8:36

Ich versuche, meiner Fassungslosigkeit Herr zu werden über den Umstand, dass die deutschen Medien in den vergangenen neun Monaten vom US-Wahlkampf dominiert wurden, wie es eine Bundestagswahl noch nie geschafft hat – indem ich die Geschehnisse als das betrachte, was sie nun mal waren: eine gigantische Marketing-Maschinerie, vergleichbar mit dem ewigen Kampf Coca Cola gegen Pepsi Cola, Adidas gegen Puma. Im Ring war zunächst die Marke Clinton gegen die Marke Obama – und die deutschen Medien berichteten über die Kür eines Präsidentschaftskandidaten eines 4000 Kilometer entfernten Staates bereits mehr als über jede Bundestagswahl. Wenn meine Wegschalterinnerung nicht trügt, gab es darüber sogar Brennpunkt-Sendungen nach der Tagesschau. Dann hieß es Marketingkampagne McCain gegen Marketingkampagne Obama, inklusive Testimonials von Prominenten. Und es hat funktioniert: Diese Shows rissen mindestens so viele Deutsche emotional mit wie die Fußball-Europameisterschaft, unter gebildeten Deutschen lag der Prozentsatz vermutlich höher als bei der EM. (Glücklicherweise fehlten die Hupkonzerte.) Man erzähle mir nicht, dass das eine vernünftigere Parteinahme war als die Präferenz für eine Turnschuhmarke – kaum einer der Schlachtenbummler konnte Inhalte der Wahlprogramme nennen. Heute Morgen hat sich die digitale Intelligentia von der Abschlussreden-Show bereitwilliger zu Tränen rühren lassen als von Steven Spielbergs E.T. Wird Herr Obama jetzt Kurzarbeit bei BMW verhindern? Wird er dafür sorgen, dass der G8-Lehrplan an bayerischen Gymnasien reformiert wird? Wie steht er zu Studiengebühren? Wird Herr Obama gegen die neue Computerüberwachung einschreiten? Will auch er die Pendlerpauschale wieder einführen? Ach, dafür ist er gar nicht zuständig?

Aber ja sehe ich auch Gutes darin: Demnächst gibt es hoffentlich ein Marketing-Lehrbuch, in dem die Macher der Obama-Kampagne detailliert schildern, warum ihre Marke mehr Käufer gefunden hat als der Wettbewerb.

die Kaltmamsell

19 Kommentare zu „Marketing funktioniert“

  1. Hande meint:

    Oh, nicht doch so hart sein mit uns. Es ist die Hoffnung, dass wenn es Amerika besser geht, uns allen auch bisserl besser gehen wird. Die Finanzwelt, der Krieg in Irak, Umweltschutz sind doch alles Themen die uns auch was angehen/beeinflussen.

  2. cohu meint:

    “kaum einer der Schlachtenbummler konnte Inhalte der Wahlprogramme nennen”

    Die Mehrheit der Anhänger wird vielleicht hoffen, dass beim Gewinner die Wahrscheinlichkeit, dass er noch ein paar aussichtlose Kriege startet, etwas geringer ist, als beim Verlierer. Finde ich eine vernünftige und auch für Nicht-Amerikaner begründete Parteinahme.
    Und dass es ein emotional besetztes Ereignis ist, wen ein Schwarzer Präsident wird, naja, klar, man kann sich da als kritischer Deutscher, der den Überblick hat, auch was total zynisches, ironisches und sarkastisches zu einfallen lassen, muss man aber nicht unbedingt.

    (Ist “Marketingkampagne” was böses? Verstehe den Punkt nicht ganz, geht es darum, dass das Produkt auswechselbar und beliebig ist (Turnschuh)? Also im speziellen Fall hatte ich jetzt z.B. wirklich nicht den Eindruck, dass man da in die Obama-Campaign jeden Hansl hätte hinstellen können und er hätte gewonnen. Man stelle sich da z.B. Franz Maget vor…)

  3. kaltmamsell meint:

    Meine Kritik richtet sich gegen die Auswechselbarkeit der Kampagnen, die kaum Inhalte, sondern hauptsächlich Atmosphäre transportierten – wie eben zum Verkauf von Cola oder Turnschuhen. “Hinstellen” konnte man dafür tatsächlich nicht jeden, es brauchte auch für diese Marketing-Kampagne passende Darsteller. Da ich das Geschehen, ebenso wie bayerische Landespolitik, fast ausschließlich ohne Bewegtbilder verfolge, sind mir Herrn Magets Aussagen, Werte, Ansichten, Argumente bedeutend lieber.

  4. Sabine meint:

    Ach, nicht so grantig sein. Jeder Mensch hat doch bekanntlich zwei Heimatländer, das eigene und die Vereinigten Staaten. (Zu Jeffersons Zeiten war es noch Frankreich, aber das ist halt nicht mehr so hip).

    Ich bin bekennender Teilzeit-Amerikaner. Macht mir gar nichts aus. Ich bin jetzt froh und übernächtigt.

  5. Blogheinzelmännchen meint:

    Ich mag Geschichten, und Amerika ist ein Land, das seit mehreren hundert Jahren Geschichten produziert. Und jetzt ist wieder eine Geschichte fertig geworden – eine gute, wie ich finde, angefangen von der hohen Wahlbeteiligung und der großen Zahl an Erstwählern. Ich war gerührt. (Allerdings: An Wählerstimmen haben die Republikaner immer noch 47% gekriegt.)

  6. Alice meint:

    Möglicherweise ist dies in den hiesigen Medien auch etwas verfälscht rübergekommen. Die Details der US-Gesundheitsreform oder der Steuerpolitik sind eben in Europa nicht zu vermitteln. Daher wird hier eher von den Medien Atmosphäre, Emotionen und Gossip transportiert.

    Immerhin haben die 2,5 Milliarden US-Dollar für den Wahlkampf verbraten. Wäre schlecht angelegt, wenn da nichts in der übrigen Welt angekommen wäre.

  7. cohu meint:

    Diese ganze Show wird doch nicht deshalb abgezogen, weil man sich halt so gern in Emotionen und Atmosphären wälzt. Genausowenig wie bei uns Wahlkampf todlangweilig und von Gesichtsbaracken vorgetragen wird, weil wir Langeweile und schlechte Zähne so mögen. Das alles hat einen tieferen Sinn bzw. fußt auf unterschiedlichen Grundannahmen.
    In den USA glaubt man anscheinend, dass:

    1. Man in persona zwar eine Zeit lang schauspielern, aber insgesamt gesehen wesentlich schlechter lügen kann als auf dem Papier
    2. Der Charakter eines Menschen etwas darüber aussagt, wie er mit Krisen umgehen wird, und dass man
    3. Von öffentlichen Auftritten etwas über den Charakter eines Menschen ableiten kann.

    Etwas wacklig, aber doch durchaus nachvollziehbar. Was glaubt man bei uns?

    1. Dass Gedrucktes von tiefer Bedeutung und Gültigkeit ist (Wahlprogramme und Positionspapiere, die der gute Bürger natürlich intensiv verfolgt, immer auf der Suche nach “Inhalten”!)
    2. Dass charismatische Charaktere intrinsisch gefährlich sind, weil sie täuschen und überspielen (Führertrauma)
    3. Dass man bei der Kombination eines ziemlich nichtssagenden, unauffälligen Kandidaten mit starken “Inhalten” (lies: Parteiprogramm und stabile, jahrzehntelange Verwurzelung in Partei) gut vorhersagen können wird, was der/die KandidatIn in Zukunft tun wird.

    Beide Weltbilder haben ihre Schwächen, ich könnte jedoch nicht sagen, welches von beiden inhärent sympathischer/richtiger/demokratischer/verlogener ist. (Weil ich mich gerade an die letzte Bundestagswahl erinnere und an die Wahlprogramme, die ich damals doch tatsächlich gewälzt habe, kann ich versichern: die fallen auch bei uns ganz dezidiert unter “Marketing” und nicht unter “Inhalte”).

  8. walküre meint:

    Die österreichische Berichterstattung habe ich nicht als überbordend empfunden; ist es möglich, dass in Deutschland diese forciert wurde, um den eigenen Politschrott mittels dieses Ablenkmanövers kurzfristig zu verstecken ?

  9. croco meint:

    Seit Tagen motze ich rum und keiner versteht mich.

    Sie schon!

    Danke.

  10. generator meint:

    Danke, Frau Kaltmamsell.
    Ich denke, Politik ist ein schmutziges Geschäft, der sympathische Kandidat wird die Todesstrafe nicht abschaffen (ok, vielleicht auch nicht mehr Truppen in den Osten schicken), die USA sind ein elitär organisiertes Entwicklungsland (Bildung, Infrastruktur, Krankenversorgung), die Welt ist eine kreationistische Scheibe und es hätte natürlich viel schlimmer kommen können. Man freut sich nur so, weil man das Viel-Schlimmer bisher immer gewohnt war. Das reicht zum Girlanden aufhängen.

    Schade, doch wieder keine schwarze, lesbische, dicke, agnostische, bodenständige, großmäulige und kluge Frau als Präsident.

  11. rip meint:

    Der Medien-Hype ist einem Geheimbund von Englischlehrern zu verdanken, die auf diese Weise die Motivation ihrer Schüler, sich mit amerikanischer Politik zu beschäftigen, anzukurbeln gedenken. Hat ja wieder ganz ordentlich funktioniert.

    @walküre: Interessante Theorie. Nur:
    a) Welches Interesse sollten deutsche *Medien* daran haben, *Politik*schrott zu überdecken? (Oder ist mir eine andere Theorie bisher entgangen, nach der die Medien grundsätzlich politikhörig sind?)
    b) Gilt der Umkehrschluss, dass österreichische Medien den österreichischen Politikschrott unbemäntelt lassen? Oder gibt es dort keinen?

  12. walküre meint:

    Wir hatten in Österreich im September vorgezogene Neuwahlen, insofern gab es genug Möglichkeiten zur heimischen Berichterstattung. Abgesehen davon hege ich den Verdacht, dass man mit der deutschen Politikszene keine Leser, keine Zuhörer und keine Zuschauer mehr hinter dem Ofen hervorlocken kann und insofern die Berichterstattung aus den USA sehr viel quotenträchtiger ist. So war mein Kommentar gemeint, und nicht als krude Verschwörungstheorie. Sollten Sie allerdings glauben, Medien seien nicht politikhörig, müsste ich Sie großer Naivität bezichtigen.

  13. Sabine meint:

    >… Politik ist ein schmutziges Geschäft, der sympathische Kandidat wird die Todesstrafe nicht abschaffen (ok, vielleicht auch nicht mehr Truppen in den Osten schicken), die USA sind ein elitär organisiertes Entwicklungsland (Bildung, Infrastruktur, Krankenversorgung), die Welt ist eine kreationistische Scheibe und es hätte natürlich viel schlimmer kommen können.

    Der Geheimbund der Englischlehrer sagt ganz ungeheim: Gehen Sie zurück in den Englischunterricht. Gehen Sie nicht über Los. Oder wie stellen Sie sich vor, dass der Präsident der Vereinigten Staaten die Todesstrafe, die es eh nicht für die Nation gibt, abschaffen soll? Also noch mal von vorn, Montesquieu, checks and balances, federalism…

  14. Modeste meint:

    Geht’s darum? Nein, ernsthaft, die USA sind zu wichtig, um einem egal zu sein, und nach wie vor ist New York die Hauptstadt der Gegenwart, wie Paris die des 19. Jh.

  15. Sebastian meint:

    Na, das glaube ich nicht , dass es bei dem Anstoß hier nur um die Verpackung und nicht den Inhalt gehen soll. Und der hat nun mal lange eine sehr große Rolle auch für unsere Politik gespielt – ist doch nicht so schlecht, dass das seit dem Mauerfall nicht gleich alle ignorieren wollen? Sonst müsste man ja Flugzeugangriffe auf New York oder Kriege im Nahen Osten auch ignorieren. Oder gar John Irving und Grey’s Anatomy. Und US-Zeitungen? Die schon, denn anders als bei uns berichten die sehr sehr wenig von dem, was auf anderen Kontinenten passiert. Dass nun alles gut wird wie Frau Merkel meint, glaube ich jetzt auch nicht – aber die Freude sollte man den Leuten schon lassen, gibt eh viel zu wenig (Freude).

    Und ach: Liegt es daran, dass keiner mehr weiß, ob man jetzt Schwarzer, Farbiger oder Afro-Amerikaner sagen darf, dass das hier gleich gar nicht thematisiert wird? Dessen Wahl in dieses Amt ist doch immer noch die erste große Sensation?

  16. creezy meint:

    Nein, da muss ich Dir wiedersprechen. Hier geht es – klar ist Wahl Marketing – um etwas anderes. Hier geht es um eine neue Dimension. Keine neue Dimension was Politik anbelangt. Aber eine neue Dimension was Fortschritt in Menschlichkeit anbelangt. Und dass uns Deutschen das gerade die Sprache verschlägt, kann ich verstehen.

    Dieser Obama entledigt die Deutsche Politik wie von selbst von dem Schandfleck, der seit dem Einzug der USA in den Irak auf ihr lastet, nämlich dass sie dem Ami im Grunde mit viel Härte über eine lange Zeit hinweg hätte zeigen zu müssen, was sie von Bush und Guantanamo-Folter hält. Er passt hervorragend in diese deutsche Medienwelt, denn er lenkt bonfortinös von dem deutschen Desaster ab, das uns noch kurzfristig erwarten wird. Deutschland hat den großen starken Bruder USA wieder. Und dieses Mal ist er sogar schwarz.

  17. die Kaltmamsell meint:

    Wer spricht denn von Ignorieren oder egal Sein? Mir wäre nichts aufgefallen, hätten die US-Wahlen so viel Raum eingenommen, wie – sagen wir – die französischen Präsidentschaftswahlen. Oder die deutschen Bundestagswahlen.

    Dass Herr Obama eine andere Hautfarbe hat als ich – diesen Faktor unterschätze ich möglicherweise wirklich. Ich hatte auch unterschätzt, was es in der Wahrnehmung ausmacht, dass die deutsche Bundeskanzlerin eine Frau ist.

  18. generator meint:

    Klar. Aber was gibt es für eine Wahrnehmung der Kanzlerinschaft? Lese ich nirgends. Da “herr”scht wohl gelinde Irritation und deshalb Schweigen.

    Klassische Frauenberufe werden schlechter bezahlt und haben ein geringeres gesellschaftliches Ansehen. Wird “Kanzler” zum Frauenberuf? Verliert gar das Amt gleichsam an Glanz und Glamour, weil das ja sogar eine pragmatische Frau kann? Ob Frau Merkels Bezüge an die von Herrn Schröder heranreichen (mit allem Drumherum)? Verdienen Frauen jetzt das Gleiche wie Männer, weil wir Kanzlerin haben?

  19. Kai meint:

    Also bei dem teilweise versammelten Halbwissen, was ein US-Präsident darf, kann und soll verweise ich mal (wieder) auf dieses Blog hier: usaerklaert

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