Ein neuer, uralter deutscher Weihnachtsbrauch
Freitag, 26. Dezember 2008 um 9:12Als ich mich zum ersten Mal mit US-Amerikanern über deutsche Weihnachten unterhielt, vor vielen Jahren, trumpften meine Gesprächspartner mit einem Detail auf, das ihnen zufolge jeder Ami über Deutschland weiß: In deutsche Christbäume wird eine Essiggurke gehängt, die Christmas pickle. Nach der Initialverdutzung, die Aussage war scheinbar sachlich getroffen worden, schüttete ich mich aus vor Lachen – das war also der berühmte amerikanische Humor. Doch nein, nun waren die Amerikaner verdutzt: Diese Information sei Teil jedes Deutschunterrichts, und viele amerikanische Familien mit deutschen Vorfahren befolgten diesen Brauch auch in der neuen Heimat. Nicht unbedingt mit einer echten, frischen Essiggurke, sondern gerne auch mit einer stilisierten aus Glas. Man hielt mich damals für eine reichlich seltsame Deutsche, weil ich davon noch nie gehört hatte.
Seither haben mir noch viele Amerikaner von der typischen deutschen Christmas pickle im Christbaum erzählt und konnten sich nicht erklären, dass wir Deutschen die Existenz dieses Brauchs bestritten. Gestern erzählte mir die Schwägerin über dem nachmittäglichen Plätzchenteller, sie habe von einer amerikanischen Wissenschaftlerin gehört, die dem nachgegangen sei, indem sie alle deutschsprachigen Regionen nach dieser angeblichen Tradition untersucht habe. Das Ergebnis: Nirgends, bei niemandem, niemals wurden hierzulande Essiggurken in Christbäume gehängt. (Meine Theorie: Es gab mal eine meschuggene thüringische Christensekte, die das einführen wollte, im frühen 19. Jahrhundert. Die hat man aber in die Neue Welt rausgeworfen, wie so viele Christensekten. Und dort konnten sie ihre neue Idee endlich ausleben.)
Nun lassen sich aber die Amerikaner, die sich für Deutschland interessieren, nicht von diesem charmanten Detail abbringen. Schon gar nicht, wenn sie Deutschland in der Adventzeit bereisen. Und so fragen sie auf Christkindlmärkten und in Rothenburg ob der Tauber nach den typischen deutschen Weihnachtsgürkchen für den Christbaum. Mittlerweile hat sich die Industrie auf diesen Bedarf eingestellt: Immer mehr Weihnachtsschmuckhersteller bieten Christbaumkugeln oder Glasdeko in Essiggurkenform an – wenn die Amis so wild darauf sind, bitte. Meine Wette: In wenigen Jahren hängen in deutschen Christbäumen tatsächlich Essiggurken, und wir versichern einander, dass es sich um einen uralten Brauch handelt.
(Es gibt allerdings durchaus Anstrengungen, diesen Blödsinn zu entlarven.)
die Kaltmamsell15 Kommentare zu „Ein neuer, uralter deutscher Weihnachtsbrauch“
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26. Dezember 2008 um 10:19
Werte Kaltmamsell,
von hier aus die besten Weihnachtswünsche und alles Gute für 2009. Machen Sie weiter so mit den schönen Geschichten.
Meine Gedanken zum Christmasspickel sind folgenden: könnte es nicht sein, dass mit dem “pickle” die Christbaumspitze gemeint ist. Die sieht ja fast aus wie eine Pickelhaube.
Ach ja, wie war es mit den Regalos? Haben Sie schon viele schöne Bücher reingestellt?
Feliz navidad y un prospero anjo nuevo
Molt d´anys
Die Dokse
26. Dezember 2008 um 12:50
Frohe Weihnachten!
Die Christbaumspitze war auch mein erster Gedanke, unsere sah tatsächlich genau wie die Spitze einer Pickelhaube aus. Vielleicht wurde die Christbaumspitze deshalb früher umgangssprachlich Christbaum-Pickel genannt? Möglicherweise kam diese Bezeichnung durch die deutschen Auswanderer nach Amerika, und dort wurde aus dem Deutschen “Pickel” schnell die Gurke. Lt. einer Leo-Diskussion ist es auch eine ” Pennsylvania Dutch tradition” (http://dict.leo.org/forum/viewGeneraldiscussion.php?idThread=11244&idForum=4&lp=ende&lang=de)
26. Dezember 2008 um 14:52
Natürlich hängen in wenigen Jahren die Gurken bei uns im Weihnachtsbaum. Die Industrie arbeitet hart daran:
http://www.weihnachtenseite.de/christmasworld07.html
Die Legende von der Weihnachtsgurke. Inge-Glas® lässt einen alten deutschen Brauch neu aufleben
26. Dezember 2008 um 17:57
Das kommt vermutlich aus der gleichen Ideenschmiede wie die Idee, dass alle Deutschen David Hasselhoff toll finden. Obwohl der ja mal bei der Preteen-Zielgruppe eine Zeitlang ganz beliebt war, also immerhin echter ist als die Weihnachtsgurke.
26. Dezember 2008 um 20:46
Das ist ja völlig unglaublich. Aber nun, was soll’s. Herrliche Vorstellung übrigens, so ein Baum mit streng riechenden, tropfenden sauren Gurken.
26. Dezember 2008 um 21:33
Dezember, Dezember!
26. Dezember 2008 um 22:08
Alle Amerikaner wissen auch, dass Deutsche warmes Bier trinken. (Vermutlich, während sie David Hasselhoff bewundern.) Ich missioniere seit Jahren in Kalifornien, aber mir glaubt keiner, dass das nicht stimmt.
27. Dezember 2008 um 2:34
@Elke
aber freilich, bei den Schwaben heisst es “A gschtauchts”. Wobei ich mich schon als Kind gefragt habe, ob das Bier denn beim Erwärmen nicht eher an Volumen gewinnt, als verliert. Probiert habe ich das warme Bier aber selbst noch nicht.
27. Dezember 2008 um 7:18
Danke für diese Entdeckung. Ich liebe neue uralte Bräuche. Ich hab mal geg**gelt und 24 100 Verweise für “christmas pickle” gefunden, sogar das Bild einer Weihnachtsgurke auf Wikipedia.
Darf ich über die Weihnachtsgurke in meinem Blog schreiben?
27. Dezember 2008 um 8:00
Aber sicher, waltraut, gnadenlose Aufdeckung ist doch der Blogs heiligste Pflicht.
27. Dezember 2008 um 14:46
Was ich witzig finde, ist, dass ich noch kein einzigen Amerikaner getroffen habe, der dies behauptet hat oder sogar auf Anfrage (Umfrage in der großen expat community Roms + alte Bekannte in USA) zugab, je etwas davon gehört zu haben. Umgekehrte legend building a la: Alle Deutsche glauben, dass alle Amerikaner denken, dass es ein weihnachts pickle tradition in Deutschland gibt?
27. Dezember 2008 um 17:13
Ist das wieder großartig! Vielen Dank für die schöne Weihnachtsgeschichte! ,-)
27. Dezember 2008 um 19:53
@Dokse – danke für die Erklärung! Kenn ich überhaupt nicht, obwohl ich ganz nah am Schwabenland aufgewachsen bin (im nordbadischen “Madonnenländchen” oder auch wahlweise “Badisch-Sibirien”, etwa 100 km nördlich von Stuttgart).
28. Dezember 2008 um 16:49
Bei http://www.bolliskitchen.com hängen die Essiggurken bereits am Weihnachtsbaum. Aber der steht ja in Paris.
29. Dezember 2008 um 21:40
Neueste Variante, aus Ohio: Arbeitskollegin behauptet todesmutig, die Gurke sei in der Tat historisch belegt, faktisch bewiesen, und hochtraditionell, allerdings jedoch IRISCHEN Ursprungs. Argh.