Zumutungen
Donnerstag, 3. September 2009 um 10:27So banal es klingt: Die meisten Dinge sind ganz schön komplex, wenn nicht sogar kompliziert.
Da wird in einem „Wellness-Hotel“ ein schlaganfallgeschädigter Urlauber gebeten, die Sauna nicht mehr zu nutzen: Andere Hotelgäste hätten sich beschwert.
Ein schwer erträgliches Argument des Hotelchefs ist laut Zeitungsbericht: „Ich an seiner Stelle würde anderen den Anblick dieses schlimmen Schicksals nicht zumuten wollen.“
Auch mein Puls steigt als Reaktion sprunghaft, und mein böses Hirn bietet mir den unsachlichen Vergleich an, dass die Mitgliedschaft in einem rheinischen Kegelklub ein erheblich schlimmeres Schicksal ist, dessen Anblick eine Hotelleitung aber sicher nicht als Zumutung bezeichnen würde. Für mich ist diese Haltung eine Fortsetzung des Eigen- und Fremdanspruchs an körperliche Perfektion – siehe die neue Scham im Fitnessstudio.
Doch dann fällt mir das jüngste Blogposting von Allrighttit Lisa ein. Darin beschreibt sie ihre Gefühle in der Umkleide ihres Fitnessstudios – die genau das Gegenteil von meinen sind:
Apologies if this applies to you, but what is it with those women who parade around naked, admiring themselves in the mirror? The other day I threw my head back after drying the underneath of my hair, and discovered that the woman combing her locks beside me was starkers; flaunting her perfect tits in my face like a supermodel at fat camp. ‘Oh ferchrissake, I could do without having to look at that,’ I muttered quietly under my breath, wiping unwanted hair mousse down the front of my leggings as I walked away. ‘Some of us haven’t got tits worthy of public attention. It shouldn’t be allowed.’
(…)
Looking back across the changing room, I realised it was the same woman who’d frowned in my direction as I put my covert-changing plan into effect: pull knickers on underneath the towel, fasten bra over the towel, pull my top over it, then lose the towel in exchange for my leggings. Done. It’s a routine I perfected as a kid, way before I had a fake boob, tattooed nipple and visible surgery scars to worry about.
(…)
Since then, I’ve been similarly subtle in changing rooms. And not always out of coyness – more out of respect for my fellow changees. Because really, even if I did have a stomach like Scarlett, pins like Paltrow and a booty like Beyonce, who, exactly, would be interested?
Lisa sieht es als Zeichen von Respektlosigkeit gegenüber Mitmenschen, sich überhaupt in einer Gemeinschaftsumkleide nackt zu zeigen. Nacktheit in Gegenwart anderer ist in ihren Augen eine Aufforderung zum Hinsehen. Das will ich natürlich nicht. Vielleicht sollte auch ich mich künftig nach dem Turnen für den Weg zur Dusche einwickeln? Selbst wenn mir schon mal widerstrebt, dabei ein frisches Handtuch mit dem Schweiß meines klatschnassen Körpers zu versauen?
Und dann wieder registriere ich auch selbst, dass mich so mancher Anblick unangenehm berührt, wenn er mir einen Einblick in eine Intimität aufzwingt, die ich nicht wissen will. Regelmäßig geht es mir beim Jahresausbruch schönen Wetters ja schon mit all den nackten Füßen so, die ich schlagartig sehen muss: Diese Schwielen, Nagelruinen, Hammerzehen, abgeblätterten Lackschichten und Besenreiser will ich eigentlich nicht kennenlernen. Über den Sommer hin stumpfe ich glücklicherweise ab. Ich empfinde es auch als ungehörig, wenn mir auf der Münchner Sonnenstraße eine Touristin im Bikinioberteil entgegenkommt – noch dazu zugegebenermaßen mehr so, wenn es sich um eine dicke Touristin handelt.
Wo sind also die Grenzen des Respekts für andere? Ist eine Dicke im selben Grad der Nacktheit ungehöriger als eine Dünne? Welche Abscheu hat Berechtigung? An welcher Stelle ist Rücksicht geboten?
die Kaltmamsell25 Kommentare zu „Zumutungen“
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3. September 2009 um 11:10
In dem zweiten Beispiel irritert ja auch die Angeberei, “Titten-Protzer” (darf ich das als Mann überhaupt sagen? He, ich wag’s heute mal!) sind da sicher das Äquivalent für Bizeps-Rotierer und Fußball-Tricks-Nerver am Strand oder Haus-Auto-Pferd-Vorzeiger. Bescheiden fühlt sich ja nicht jeder hell genug erleuchtet. Die Angst, im vermeintlich Unschönen des Gegenübers den eigenen Verfall gespiegelt zu sehen, ist einerseits verständlich. Bedenklich bleibt der Zug zur scheinbaren Normierung durch die Allgegenwart geschönter Körper, während die Bandbreite des wirklich Normalen ausgeblendet wird. Wie soll man da auch unbefangen sein, wenn der Körper so zur (Re-)Präsentationsfläche wird?
Und noch ein Gedanke: Es ist ein Unterschied zwischen Unbefangenheit und Gedankenlosigkeit. (Muß ich aber noch drüber meditieren.)
3. September 2009 um 11:21
Mit ähnlichen Fragen schlage ich mich beim sommerlichen Besuch am Baggersee herum, an dem sich sehr gerne unbekleidete Menschen präsentieren. Mein Problem sind dabei weniger die Leute, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen sondern diejenigen, die durch das Entfernen ihrer Schamhaare deutlich mehr Details zur Ansicht freigeben, als ich mir anschauen möchte. Und meine persönliche Grenze wird vor allem dann überschritten, wenn ich wirklich das Gefühl habe, dass ich in die Rolle einer Zuschauerin gedrängt werde. Besonders bei einigen Männern fällt mir auf, dass sie extrem breitbeinig daliegen oder gerne nackt im Sichtfeld anderer herumstehen.
Gleichzeitig muss ich aber zugeben, dass ich es selbst angenehm finde, nackt zu schwimmen und meine Abscheu vermutlich einfach meiner eigenen Verklemmtheit geschuldet ist, weniger dem mangelnden Respekt der anderen.
3. September 2009 um 11:49
Ich war sehr, sehr lange Zeit ein eifriger Saunagänger. Auch FKK war gang und gäbe. Ich habe sehr früh gelernt, dass ein nackter Körper eigentlich gar nie hässlich sein kann. Jedenfalls kann man mit Kleidung mehr versauen, als mit Nacktheit. Diese Ansicht vetrete ich nach wie vor felsenfest und es betrifft immer die Nacktheit beiderlei Geschlechts.
Seit ein paar Jahren schlage ich mich immer wieder mit neurodermitischen Problemen herum, wobei eine Ursache völlig im Dunkeln liegt. Sind diese Probleme zu offensichtlich werden diese Stellen rigoros bedeckt und zwar aus Rücksicht auf das ästhetische Befinden anderer. Nicht wegen den Flecken an sich, es sind ja schließlich keine Pestbeulen.
Leute, die sich abfällig über (vermeintlich) körperliche Unzulänglichkeiten anderer äußern sind mir ein Greuel, Menschen hingegen, die sich selbstbewußt zu den “highs and lows” ihres Körpers bekennen sind mir angenehm.
So verhält sich das bei mir, die gestellten Fragen beantwortet das natürlich nicht.
3. September 2009 um 12:10
danke foxxi, so denke ich auch.
wer bitte legt fest, was ich aus rücksicht auf andere zu bedecken habe?
warum? weil der Ort nicht passt oder weil ich nicht passe?
wer bitte hat das recht anderen zu sagen, dass für sie kein platz ist?
neuro ist so eine sache für sich, ich bin da entweder unbekümmert oder auch aggressiv. Hatte mal eine unnette Auseinandersetzung mit 1 im Schwimmbad, der mir das Recht absprechen wollte, da zu sein. Ich habe ihm klargemacht, dass er sich bei mir nicht anstecken kann, ich mich eher bei ihm :-) aber lustig ist das nie.
3. September 2009 um 12:29
Da treffen zwei Frauen in einer Umkleidekabine aufeinander; die eine muss selbst an diesem Ort ihre Nacktheit zelebrieren, die andere muss sie selbst an diesem Ort verbergen. In meinen Augen haben sie das gleiche Problem: Sie sind zu sehr mit ihrer Außenwirkung beschäftigt. Jetzt werde ich mal harsch: Ich fände es schön, wenn ich wenigstens in Umkleidekabinen, Saunen und Schwimmbädern den jeweils praktischen, angemessenen Grad an (Un-)bekleidetheit tragen dürfte, ohne mich auch noch mit den Körperwahrnehmungsproblemen anderer und ihren Projektionen auf mich aussetzen zu müssen. Ich bin nackt oder in Badehose sicher alles andere als eine Augenweide, aber deswegen werde ich nicht auf Sauna oder Schwimmbad verzichten, oder mich gar (wie bescheuert ist das denn?) in der Umkleidekabine unter Handtüchern versteckt umziehen.
Für die allgemeine Öffentlichkeit auf der Straße, im Büro, in Restaurants etc., wo ich nicht damit rechnen muss, plötzlich alle möglichen Körperteile blank präsentiert zu bekommen, sehe ich das anders.
Wer aber, egal in welchem Kontext, nur Einzelne aufgrund bestimmter äußerlicher Eigenschaften wie z. B. teilweiser Lähmung oder Körperfülle diskriminiert (also nicht nur ein persönliches Unbehagen mit dem Anblick hat – das bleibt ja jedem unbenommen – sondern sich für ein Verschwinden dieses Anblicks einsetzt), sollte sich schämen. Niemand ist perfekt, unsere verquasten Vorstellungen von Schönheit und Normalität sind es schon mal gar nicht, und ein wenig Demut stünde uns wohl allen gut zu Gesicht. Wenn nicht sogar zuweilen ein wenig Respekt davor, dass sich da jemand nicht im Kämmerchen einschließt aus Angst, andere könnten Anstoß an seinem Körper nehmen.
3. September 2009 um 13:39
@nevesita: Ja, die Intimrasurmode kann einem wirklich die Freude am Nacktschwimmen vergällen. Ich glaube auch, dass sie zur von der Kaltmamsell beobachteten steigenden Verschämtheit beiträgt, da sie für viele schon zur Norm erhoben würde. Ansonsten stimme ich giardino in allen Punkten heftigst zu.
3. September 2009 um 13:44
Als ich den englische Text las, hatte ich prompt den gleichzeitig in meinem Kopf visualisierten Banner von Umkleide-versteck-Dich-Mode und teuren Bedeck-Dich-luxuriös-Handtüchern im Kopf. Ich bin so konditioniert mittlerweile. Man muss die dummen Leute nur zum Kommerz treiben. Sorry. Ich bin für ein bisschen mehr Freiheit meinen Mitmenschen gegenüber, Leute die anfangen in dem Umfeld anderen ihre Körperlichkeit abzusprechen, mögen bitte zu Hause bleiben. Im Keller. Ohne Web-Zugang. So etwas will ich nicht lesen noch mitbekommen.
Meinen Urlaub verbrachte ich mit einem wundervollen taubblinden, geistig völlig anders genormten, lustigen Mädel. Wir durften nicht gemeinsam mit anderen Franzosen an Stehtischen in Markthallen trinken, Restaurantkräfte „reservierten“ plötzlich schnell die wenigen freien Tische im Restaurant, die frei waren, als wir auf sie zu steuerten.
3. September 2009 um 14:04
Genau das fürchte ich, kid, dass allein schon Nacktheit als Prahlerei angesehen wird. Über den Unterschied zwischen Unbefangenheit (die mir mittlerweile in der Umkleide abhanden gekommen ist) und Gedankenlosigkeit nachzudenken, lohnt sicher.
Normen, giardino, sind wohl tatsächlich ein Schlüssel: Paradoxerweise sind viele davon subjektiv festgelegt, werden aber in scheinbarer Objektivität angewendet – sonst nähmen die Leute sich ja nicht heraus, andere wegen des Verstoßes dagegen zu rügen. Seien es Haut oder Haare.
Wenn es dann noch dazu über den Anblick hinaus geht, creezy, die andere Normierung sich auch auf Geräusche und Bewegung auswirkt, wird es noch viel komplizierter.
3. September 2009 um 14:11
Alles ist gut, was man gerne tut.
Ich zeige mich gerne nackt. Aber nur den Leuten, die mich nackt sehen wollen. In der Sauna oder beim FKK oder im Swingerclub sind die Leute darauf eingestellt, dass Menschen unbekleidet zu sehen sind. Dort bin ich ohne Scham.
Aber an Orten, wo das nicht hingehört, kleide ich mich angemessen.
Und in Umkleidekabinen ziehe ich mich schnell und ohne Gehampel um. Aber ich verzichte dabei auf das umständlihe Umwickeln mit Badelaken oder so.
3. September 2009 um 14:29
nun, was soll ich da sagen. mich hat man schon in der u-bahn im hochsommer aufgefordert, gefälligst die narbe am als zu bedecken, das sei unappetitlich anzusehen, besonders in kombination mit dem hängenden oberlid. dann war da noch das kind, das nicht neben “der frau mit dem grauslichen gesicht” sitzen wollte. und die frau die meinte, wenn sie so aussähe wie ich würde sie sich aufhängen. oder die jungen y-chromosomenträger, die meinten ich gehörte eutinisiert (ja, die sprachen das so aus). und der mann, der meinte, mich würde wohl nie wieder einer f… . und die alte frau, die sagte, so schiach müsse man auch einmal aussehen. und nicht zu vergessen mein lieber bruder, der meinte ich solle gefälligst nicht so ein blödes gesicht schneiden.
wenn ich jetzt eine burka anziehe damit ich niemand inkommodier, dann schimpfen mich wieder ein paar leute, vermutlich sogar die gleichen.
ich habe mir also angewöhnt, in solchen fällen mit einer absichtlich grauslichen grimasse ein fröhliches “l*cken sie mich doch am a…” zu flöten. möglichst laut.
3. September 2009 um 14:47
Puh hab garnicht gewußt in wievielen Situationen ich eigentlich mir Gedanken machen müßte. Wie hieß mal ein Beratungstitel: Sorge Dich nicht – lebe.
Fkk-schwimmen ist schön und Umkleiden bei Kieser ist eben ein gleitender Prozess und wenn ich einmal wirklich einen Anblick unästhetisch finde wie “Hammerzehe” nun dann stimm ich eben mit den Füßen ab und orientiere mich räumlich neu.
3. September 2009 um 14:58
Ich bin auch bei Kieser: Wie ist bitteschön der »gleitende Prozess« gemeint? Wir bemühen uns an unserem Standort ganz unaufgeregt um Diskretion und Distanzwahrung.
Doch jeder Mann von 20 bis 75, mit niedrigem oder hohem BMI, mit eher schlaffem oder eher straffen Körper wird dort akzeptiert und respektiert. Man kennt sich doch ohnehin, weil man sich ja auf der Runde durch das Studio in Sportkleidung begegnet und die Leistungen sehen kann.
3. September 2009 um 15:32
es ist doch immer eine frage von ort und – wie im gegebenen beispiel – von kulturraum. in der anglosphere gibt es halt andere ansichten was nacktheit angeht (man denke an saunieren in amerika, wo man beim ersten blick die europäer erkennt). wenn ich mich an einem ort befinde, an welchem ich mich ausziehen muss, weil ich zum beispiel schweiß von meinem körper (igitt, schweiß!) abwaschen möchte, dann tu ich das. und dass ich mich hinterher wieder anziehe, weil ich dann aus diesem waschraum auf die öffentliche straße gehe, ist auch klar. und dass ich vorher mein handtuch nicht auf meinen verschwitzten körper hängen möchte, und hinterher meine unterwäsche nicht unter einem wahrscheinlich nassen handtuch anziehen möchte…ich weiß nicht, manchmal habe ich das gefühl, ich sollte mal wieder öfter mein büro verlassen und hochglanzmagazine kaufen und das bisschen text, was darin steht, lesen, um zu verstehen, woher diese -für mich plötzliche- allgemeine körperphobie kommt.
(schwielen, nagelruinen und hornhaut lassen sich ja eigentlich auch selbst ‘behandeln’, und wer so auf die straße geht, geht vielleicht auch ungeduscht?)
3. September 2009 um 16:12
Man kann das halt nicht vergleichen finde ich, denn gerade weil wir nicht zum Hotelchef laufen wenn in der Sauna ein “Vorzeigemodell” sitzt weil es uns deprimiert (auch wenn das so ist), da würde der Herr Hotelchef uns auch eher seltsam beäugen. Auch wenn wir uns über Fettleibige in der Sauna beschweren wollten, würde man uns mit der Toleranzkeule hauen. Und eine Sauna nunmal ein Ort ist, an dem man idR nackt ist? (war noch nie)
Jener Herr Hoteldirektor und die Beschwerenden finden es aber völlig ok dass jemand mit einer offensichtlichen Behinderung “beschwerungswürdig” ist.
Die Forderung dass man da gefälligst auf die Gesunden Rücksicht nimmt, ist ähnlich frech wie von den Vorzeigemodellen zu erwarten dass sie in der Sauna Rücksicht nehmen auf die Durchschnittsmodelle mit kleinen Problemzonen.
Mir stösst das insofern atm besonders sauer auf, da ich derzeit zwangsläufig ohne Haare herumlaufe und auch blöd angeschaut werde wenn ich eine Kopfbedeckung vergessen habe, bzw. dumme Sprüche über meine aktuelle Situation reisse, mit denen mein Umfeld nicht klar kommt.
3. September 2009 um 19:24
Ich hoffe, Dr. Flakowski klagt, kriegt ein saftiges Schmerzensgeld, und das Hotel geht pleite.
Was den Rest angeht – Respekt vor anderen hört auf jeden Fall weit vor meiner eigenen Körperlichkeit auf. Dieses Recht will ich auch gerne allen anderen einräumen – denn wo mache ich sonst den Unterschied zwischen “ich mag die Speckrollen nicht sehen”, “mach doch was über die Narbe drüber” und “Ich an seiner Stelle würde anderen den Anblick dieses schlimmen Schicksals nicht zumuten wollen”?
Wie ich aussehe, ist nicht “eine Aufforderung zum Hinsehen”. Das bin ICH. “Ich mag das nicht sehen” ist nie so wichtig wie “Ich muss damit leben”.
3. September 2009 um 23:15
Zitat:” Ein schwer erträgliches Argument des Hotelchefs ist laut Zeitungsbericht: „Ich an seiner Stelle würde anderen den Anblick dieses schlimmen Schicksals nicht zumuten wollen.“”
Was bitteschön heisst den hier “Anblick dieses schlimmen Schicksals zumuten”? Sind wir mittlerweile alle diese “Raffaelo”-gesellschaft geworden, in der nur noch “Schöne, Reiche, Gesunde, Schlanke…” was gelten? Muss man sich dafür schämen, dass man krank ist? Ist heute keiner mehr bereit sich was trauriges, krankes, behindertes anzusehen, was völlig normal ist und zu unserem Leben gehört?
Ich denke nicht, dass man den Artikel von Allrighttit mit dem vergleichen kann, was in diesem Hotel im Bayr. Wald passiert ist. “Fitnesstudio-Scham” und Diskriminierung Behinderter oder Kranker sind nun wirklich zweierlei! Ich hatte den Artikel in der Süddeutschen gelesen und hätte am liebsten die Hotelleitung angerufen und gefragt, ob sie nicht manns genug sind, Hotelgästen, die solchen Quatsch verzapfen, mal die Meinung zu sagen – vergrault haben sie jetzt auf jedenfall genügend Gäste, die sich sowas nicht bieten lassen!
4. September 2009 um 0:39
Wer sich an einen FKK – Strand, unter die Dusche, in eine Sauna oder in einen Umkleideraum begibt, sollte wissen, was ihn erwarten kann. Es gibt da schlicht keine Ästhetikgarantien, die man andererseits in Museen oder bei Miss bzw. Misterwahlen erwarten könnte – und selbst da sind die Vorlieben und Abneigungen immer noch unterschiedlich genug, um manchem den Ekelschauer über den Rücken zu treiben. Und auch menschliches Verhalten bzw. die entsprechenden Eitelkeiten sind kaum konfektionierbar, schon weil auch hier Maßstäbe fehlen, die man einheitlich zugrunde legen könnte. Mich, als Contergangeschädigten macht aber Teil 1 des Beitrages um vieles mehr betroffen : ich wäre nicht zumutbar, ein Elend etc. Und hatten wir diese Diskussion nicht in ähnlicher Weise schon einmal, vor ein paar Jahren, wo einigen Hotelbesuchern beinahe die Spaghetti aus dem Mund gefallen wären, als sie ein Restaurant gleichzeitig mit Behinderten zu nutzen hatten (durften) ? Und das Gericht stopfte denen nicht die Nudeln ins Gesicht zurück, sondern verstand ebenfalls dieses Memento als entschädigungswürdig…. Wann und wie möchte / wird sich unsere Gesellschaqft einmal weiterentwickeln, damit meinereiner hier ohne Lebensberechtigungsschein und unbehelligt leben kann ?
4. September 2009 um 9:56
@kelef
ich bin sprachlos!
4. September 2009 um 11:47
Was mir zum oben verlinkten Artikel als erstes eingefallen ist: Selbst wenn es immer schon Menschen gab, die sehr sensibel sind was den Anblick anderer angeht (schwachsinnigerweise, versteht sich), wann ging der Anstand verloren, eben nicht darüber zu sprechen?
Die Frechheit zu besitzen, sich darüber zu beschweren, da muss doch erst eine gewisse Hemschwelle fallen, oder?
Den genau das würde gegen meine persönlichen guten Sitten verstoßen.
Menschen schauen. Sie starren. Das ist, befürchte ich, Natur. Aber Ansprüche an Andere erheben? Hybris, Irrsinn, Intoleranz.
Persönlich hab ich eine gewissen Konditionierung bemerkt: ich bin mir meiner Speckrollen bewußt und versuche möglichst wenig meiner Körperlichkeit anderen zuzumuten. Hauptsächlich allerdings, weil ich selbst nicht all zu viel davon sehen will.
Wegen meines verkrüppelten Beins aber auf irgendetwas, oder jemanden Rücksicht zu nehmen, käme mir nicht in den Sinn. Es sieht eben seltsam aus, wenn ich Barfuß laufe. Deal with it.
Es ist doch so: Jeder, der eine Sauna, ein Schwimmbad oder einen FKK-Strand betritt, weiß, dass er sich dem (kompletten) Anblick anderer Menschen aussetzt. Wer sich dann über eine Facette der auftretenden Vielfalt beschwert (!), offenbart den Tatbestand der Dummheit. Wer die Hitze nicht verträgt, hat in der Küche nix verloren.
Die Sachlage ist anders, wenn ich im täglichen Leben mit mehr Nacktheit konfrontiert bin, als mir persönlich lieb ist. Mein Lieblingsbeispiel: Männliche Touristen in Sandalen und Shorts, sonst nichts. Es ist mir egal wie gut gebaut der Kerl ist, oder wie heiß es ist. Ein Hemd anzuziehen ist keine Zumutung.
Was für alle Bereiche gilt: Menschen rücken sich zu sehr auf die Pelle, das predige ich schon seit Jahren. Wir führen an so vielen Stellen Zwangsintimität herbei, einfach, weil man Menschen keinen Platz lässt. Ich glaube, dass sich die allgemeine Empfindsamkeit legen würde, liesen wir ein bisschen mehr physische Distanz zu. Ein guter Anfang ist es oft, vom eigenen Spiegelbild einen Schritt zurück zu treten.
4. September 2009 um 17:47
In meiner Kindheit gab es sie noch, die Kriegsverletzten. Sie saßen am Hauptbahnhof, mit eine Blechbüchse zwischen den Beinen und dem gelben Band der Blinden um den Oberarm. Wir hatten Onkels, die nur noch ein Bein hatten, die uns zeigten, wie das Holzbein aussah und der Stumpf. Wir hatten Onkels, die zerschossenen Arme hatten, deren Hände nichts mehr halten konnten. In unserer kleinen Stadt gab es so viele Menschen, die körperliche und seelische Verletzungen hatten. In der Schule sah man Kinder mit Metallgestellen an den Beinen, die so bleistiftdünn waren, die wegen der Kinderlähmung keine Muskeln mehr hatten. Und so vieles andere mehr.
Uns Kindern wurde beigebracht, respektvoll mit allen umzugeht, und Verständnis zu haben.
Später kam dann die Zeit der perfekten Körper, alles musste stimmen, Frisur, Figur, Kleidung. Es kam das perfekte Äußere. Die behinderten Kinder spielten nicht mehr auf der Straße, sie wurden früh morgens mit dem Bus geholt und am Abend zurückgebracht.
Der geistig behinderte Sohn des Nachbarn rannte nicht mehr die Gasse rauf und runter und schrie. Er war jeden Tag in der beschützenden Werkstatt.
Unmerklich verschwanden die Kriegsversehrten und alle anderen mit Behinderungen aus dem Alltagsleben.
Und plötzlich waren Orangenhaut und Speckröllchen eine ernstzunehmende Einschränkung der körperlichen Schönheit. Man will keine Menschen mehr sehen, die nicht perfekt sind. Man will auch keine Kinder mehr haben, die irgendwie ab von der Norm sind, der neuen Norm.
Der Körper ist der neue Gott, man kräftigt ihn, man zeigt ihn, demonstrativ.
Jetzt könnte ich schreien, den ganzen Tag.
5. September 2009 um 8:21
Vielen Dank, croco, für die Erinnerung an die Kriegsversehrten meiner Kindheit und Jugend. Stimmt, sie sind kein Teil des Straßenbilds mehr, der Mann im seltsamen Rollstuhl mit Hebel, die Zahnlücken, der leere Jackenärmel (auch mein polnischer Stiefopa hatte “einen Arm im Krieg gelassen”), das halb weggeschossene Gesicht, die Stahlplatte unterm Hut.
Und auch die letzten von Kinderlähmung gezeichneten Mitschüler (der jüngste allerdings drei Jahre älter als ich) hatte ich vergessen.
Ich fand das als Kind durchaus gruslig, aber diese Vielfalt war Teil des Alltags. Ja, auch ich sehe einen Zusammenhang mit der verschobenen Sicht auf Äußerlichkeiten, die bereits als widerlich gelten.
5. September 2009 um 12:35
Was croco schreibt, ist mir auch letzthin aufgefallen. Ich denke, Nacktsein ist nur in bestimmten Situationen eine Aufforderung zum Hinsehen. Ich möchte weiterhin am Baggersee im Badeanzug herumlaufen und -schwimmen, mich in der Sammelumkleide umziehen, ohne mich peinlich unter Laken zu verrenken und in der Sauna einfach nackt schwitzen, ohne mir dann auch noch was überzuziehen.
Ich finde immer noch nicht, dass ich eine Pflicht habe, einen ästhetischen Anblick zu bieten. Vor allem dann nicht, wenn anderer Leute Urteil über das, was ästhetisch ist oder nicht von meinem abweicht. Ich muss mir ja auch anderer Leute Tätowierungen und Piercings anschauen, ob ich sie ästhetisch finde oder nicht.
Dass wir inzwischen wieder einen Punkt zu erreichen scheinen, wo Menschen mit sichtbarer Behinderung oder körperlichem Makel gefälligst außer Sichtweise zu bleiben haben, ist moralisch hochgradig bedenklich, passt aber leider zum allgemeinen Trend.
6. September 2009 um 11:56
Was spricht eigentlich dagegen, dass sich unbehelligt unter dem Badetuch umzieht, wer das möchte, während andere nackt durch die Umkleide gehen und sich im Spiegel bewundern können, ohne missbilligende Blicke zu ernten, und zwar mit oder ohne Hängepartien, Fettpolster, Krater, Narben, Nagelruinen, Schwielen, Körperbehaarung? Wer sich am einen oder anderen stört, kann das ja auch mit sich selbst ausmachen – wenn es ihm denn wichtig genug erscheint. (Ja, das meine ich auch für den Fall, dass es sich beim Anstoß nehmenden um eine brustamputierte Frau handelt. Einbeinige verlangen von anderen ja auch nicht, ihre Zweibeinigkeit unter bodenlangen Umhängen zu verbergen.)
Wer sich hör- oder sichtbar am Anblick körperlicher Eigenheiten stört, täte vielleicht ohnehin gut daran, die fehlende Kinderstube nachzuholen.
7. September 2009 um 18:52
ich glaube, das ist nicht nur eine frage der kinderstube, sondern auch der eigenen ethik und moral, des inneren anstandes und einer gewissen selbsterkenntnis.
persönlich war es mir immer schon sch…egal, wie jemand aussieht, solange nicht gestunken oder gestänkert wird. manches sieht man sich lieber an, manches weniger gern, ob das nun menschen, häuser, autos oder pflanzen sind, und gusto und ohrfeigen sind ausserdem verschieden.
was allerdings jemanden in z.b. sauna, umkleidekabine oder am strand dazu bringt, andere leute anzustarren und sich dann über die diversen vermeintlichen mäkel zu alterieren, das war mir immer schon schleierhaft. wenn mir was nicht gefällt, schau ich weg und gut ist es.
8. September 2009 um 9:41
vielleicht ist es auch einfach eine Frage von ganz allgemeiner Herzenswärme, Empathie, Humor und wohlwollender Distanz.
Man könnte ja auch mal nachfühlen, dass auch es auch anderen in der Sauna oder beim FKK hauptsächlich um das eigene Wohlgefühl geht und sich mitfreuen.
Und wenn so ein lustiges Wursti mit seinem ‘Idealbusen’ in der Umkleide herumwedelt, kann ich das ja auch mal niedlich finden, ungefähr so wie ich schlimmstangezogene 14Jährige in der UBahn mitten in der Pubertätskrise auch mal niedlich finden kann.
Dieses permanente Fehlersuchen bei sich und anderen ist doch eine Art Borniertheit, letztlich.