Erst war es besonders, dann unglaublich aufregend und eine von den Geschichten, die man noch seinen Enkeln erzählt, doch am Schluss bloß noch saublöd: der Nachmittag und Abend bei der feinen Tochter.
Wir waren wohl beide in der 6., höchsten 7. Klasse des humanistischen Gymnasiums der Stadt (also elf oder zwölf Jahre alt), E. und ich, und wir waren ein bisschen befreundet – gerade genug, dass wir einander nach der Schule mit nach Hause zum Mittagessen und anschließenden gemeinsamen Spielen mitnahmen. E. war ein angenehmer Mensch, trug feine Kleider und oft eine altmodische Schleife im Haar, war ein wenig schüchtern und für meinen Geschmack ein wenig zu kicherig, aber ich mochte sie. Sie wohnte draußen in der besten Gegend der Stadt – allerdings wusste ich damals noch nicht, dass dieses Stadtviertel als solche galt, genauso wenig wie ich wusste, dass das Wohnblockviertel, in dem meine Familie lebte, das Glasscherbenviertel der Stadt war. Von ihrem Vater hieß es, er sei Bankdirektor.
Es war ein düsterer Freitag im Winter, und wir hatte uns zum Schlittschuhlaufen verabredet: In der Nähe von E.s Elternhaus gab es einen Weiher, der bereits seit Tagen zugefroren war. Also radelten wir nach dem Unterricht hinaus in den Westen der Stadt, ich mit meinem Paar Schlittschuhen um die Schultern. (Hat jedes Kind damals wie ich gelernt, wie man alle vier langen Schuhbänder von Schlittschuhen zu einer Schlinge knotet, die man zum Transport über den Nacken legen kann, aber ganz einfach wieder lösen?)
Ich glaube, E.s Mutter, die uns im schlichten 60er-Jahr-Eigenheim willkommen hieß, kannte ich vorher schon: eine kleine, ganz feine Dame mit warmem Lächeln und einer sehr herzlichen Art, mit hochtoupierten blonden Haaren und schwarzen Augenbrauen. Aber E.s kleine Schwester (Sommersprossen, das lange, krause Haar fest aus dem Gesicht gebunden) lernte ich erst beim Mittagessen kennen. Es war im Esszimmer gedeckt – wie bei uns zu Hause, wo die Klassenkameradinnen, die ich heimbrachte, gerne verschüchtert waren und abwiegelten, das hätte es doch nicht gebraucht; ich wusste nicht, was sie meinten, bis ich mal bei einer Schulfreundin daheim im Speckgürtel der Stadt am nackten Resopaltisch in der Küche auf unterschiedlichen Tellern mit Würstchen aus der Mikrowelle abgefüttert wurde.
Beim Essen erzählte E.s Mutter von ihrer Kindheit und wie sie das aufrechte Sitzen bei Tisch mit Hilfe eines speziellen Korsetts gelernt hatte, das bei Erschlaffen der Haltung schmerzhaft einschnitt – eine Gruselgeschichte, die mich noch jahrelang verfolgte. E. wird mir dann wohl das Haus gezeigt haben, denn bei dieser Gelegenheit sah ich zum ersten Mal ein weißes Klavier: E.s weißes Klavier in einem in sehr hell dekorierten Zimmer mit Gold und Rosa – ihr Zimmer? Auch das beeindruckte mich sehr.
Das Schlittschuhfahren auf dem Weiher machte nicht viel Spaß: Das Eis war schon sehr zerfahren, außerdem störten Äste und Laub der umgebenden riesigen alten Bäume. Und dann begann es auch noch zu regnen. Dennoch nutzten wir die Erlaubnis des Ausgangs bis zur Dämmerung aus und tobten und spielten auf dem Eis. Als wir zurück zu E.s Elternhaus radeln wollten, bemerkten wir, dass die Straßen spiegelglatt mit Eis überzogen waren – Fahrradfahren war unmöglich. Wir schoben die Räder und schlitterten vergnügt die wenigen hundert Meter.
Bei E. daheim kamen wir auf die Idee, unsere Schlittschuhe wieder anzulegen und auszuprobieren, ob man damit auf der Straße laufen konnte. Vermutlich war es meine Idee; ich glaube mich zu erinnern, dass die zurückhaltende E. schon den ganzen Nachmittag genossen hatte, von mir dominantem Energiebündel zu immer neuen wilden Spielen angestachelt zu werden. Mittlerweile war es dunkle Nacht, der Regen hatte aufgehört. Und es ging: Wir konnten auf der nahezu unbefahrenen Straße vor E.s Haus Schlittschuhfahren. Ein unglaubliches Erlebnis – ich konnte kaum fassen, dass ich tatsächlich mit Schlittschuhen mitten auf der Straße fuhr, auf der pechschwarz glänzenden Straße, in fast völliger Stille, denn der Autoverkehr war praktisch erlegen. Es war immer noch sehr kalt, das Eis auf der Fahrbahn würde noch eine Weile bleiben.
Natürlich wurde E.s Mutter schnell klar, dass genau das ein Problem war: Wie sollte ich heimkommen? Sie bot mir das Naheliegende an: Ich könnte doch bei ihnen übernachten. Wie aufregend! Außer bei meiner Oma oder der Familie in Spanien hatte ich noch nie ohne meine Eltern irgendwo übernachtet. E. und ich sahen eine selige Nacht im gleichen Zimmer vor uns und strahlten einander an. Man bot mir Abendbrot, Nachthemd, Zahnbürste an – alles würde ganz anders sein als daheim, fremd und allein dadurch schon großartig und wundervoll. Jetzt musste nur noch meine Mutter Bescheid bekommen, die sich ja sicher schon Sorgen machte.
Das Telefonat zwischen E.s und meiner Mutter ging ganz anders aus, als wir uns das gedacht hatten. E.s Mutter teilte uns sehr verwundert und bedauernd mit, dass meine Mutter die Übernachtung nicht erlaubte. Sie habe versucht, sie zu überzeugen, dass der (etwa vier Kilometer weite) Heimweg bei diesen Witterungsverhältnissen so gut wie unmöglich sei, doch meine Mutter habe darauf beharrt. Sie werde mir zu Fuß entgegen kommen.
Auch ich verstand das nicht, aber in diesem Alter versteht man als Kind ja so manche Entscheidung und Anweisung der Erwachsenen nicht. Sehr wahrscheinlich fand ich meine Mutter an diesem Abend also einfach nur doof. Ebenfalls wahrscheinlich schlug mein Zorn umgehend in Bockigkeit um, gemischt mit Tränen. Und in sowas wie ein schlechtes Gewissen, daran erinnere ich mich genau – die Anordnung meiner Mutter war so abwegig, dass ich fürchtete, ich könnte irgendetwas Böses getan haben und bestraft werden.
Rutschend und mein Fahrrad schiebend machte ich mich also langsam auf den Weg nach Hause. Wo genau ich auf meine Mutter traf, weiß ich nicht mehr. Doch ich weiß noch, dass sie fuchsteufelswild war (so nannte sie selbst diesen Gemütszustand). Sie überschüttete mich mit Vorwürfen, warum ich mich nicht an die Uhrzeit gehalten hätte, die wir ursprünglich für meine Heimkehr vereinbart hatten, dass ich mich unmöglich benehmen würde, dass sie mich nie wieder zu einer Schulkameradin nach Hause lassen würde. Ich empfand mich ungerecht behandelt und verkroch mich weiter in die Bockigkeit.
Erst vor ein paar Wochen kam ich mit meiner Mutter auf diese Begebenheit zu sprechen. Sie erzählte mir, dass E.s Mutter sie viel später bei einer Zufallsbegegnung darauf angesprochen habe: Dass sie ihr nie verzeihen habe können, wie sie mich seinerzeit nachts und bei diesem Wetter zum Heimweg gezwungen habe. Und da gestand mir meine Mutter, warum sie damals so unerklärlich hart war: Sie hatte kurz zuvor in der Zeitung von einem Prozess gelesen, in dem feine Leute, ein Akademikerpaar, verurteilt worden waren, weil sie ein Nachbarsmädchen sexuell missbraucht hatten. Und nun hatte sie Angst um mich gehabt, gerade weil es sich bei E.s Familie um feine Leute handelte. Es war ihr im Nachhinein sehr peinlich. Und ich merkte, dass ich bis zu ihrer Erklärung das schlechte Gewissen gehabt hatte, ich könnte mich an jenem Nachmittag daneben benommen haben.