Alles übers Streiten
Dienstag, 8. Dezember 2009Mit steigender Verlegenheit muss ich seit mittlerweile 17 Jahre bekennen, dass ich mich mit meinem Partner nicht streite. Verlegenheit deshalb, weil es eine allgemein akzeptierte Tatsache ist, dass Streit Leidenschaft und Lebendigkeit einer Partnerschaft beweist, die Abwesenheit desselben wiederum Gleichgültigkeit und Langeweile belegt. Ein bis zwei Mal im Jahr kommt es zwar zu einer gewissen Gereiztheit zwischen uns, meist ausgelöst durch äußere Umstände, ungefähr ebenso oft schnappe ich wegen irgendeiner Kleinigkeit ein – aber zu Streit führt auch das nicht.
In der Folge hat sich meine ohnehin angeborene Konfliktscheu im Leben außerhalb dieser Partnerschaft zur kompletten Streitunfähigkeit entwickelt. Dies resultiert in ausgesprochen geringer Erfahrung im Streiten, ich weiß so gut wie nichts über die Details und Abläufe. Wie sehr freute ich mich also über die Lernmöglichkeit, als ich letzthin einer Dame gegenüber saß, die nach eigener Zählung einmal wöchentlich mit ihrem langjährigen Partner streitet – zumal die Art, in der sie über ihn spricht, Wertschätzung und große Zuneigung verrät. Also bat ich sie, mir einen solchen Streit möglichst detailreich zu beschreiben; ich wollte herausfinden, wie das geht. Ihre Schilderung ließ mich allerdings noch ratloser zurück. Im jüngsten Streit war es um ein vom Herrn geschätztes Buch gegangen; ihr hatte es nicht gefallen, was sie an einigen Merkmalen begründete. Nun warf ihr Partner ihr und ihrem Leseverhalten eine ganz Reihe unvorteilhafter Dinge vor – die ganz eindeutig nicht zutreffen. Jeder, der die Dame auch nur einmal über Literatur hat sprechen gehört, weiß das, umso mehr jemand, der seit vielen Jahren an ihrer Seite lebt. Wieso hat der Partner also das Gegenteil behauptet? Seine Absicht kann ja nur gewesen sein, sie zu beleidigen. Vielleicht hatte er sich durch die Kritik an dem Buch selbst abgelehnt und angegriffen gesehen und mit Beschimpfungen zurückgeschlagen.
Allein daraus habe ich schon Fundamentales über Streit gelernt: Dabei werden Aussagen getroffen, die sich nicht mit der tatsächlichen Ansicht des Sprechers decken. Vor ein paar Wochen warf mir der Chef einer anderen Abteilung wütend vor, ich hätte ihn absichtlich hintergangen, um zu einem Ziel zu kommen. Ich hatte nicht einmal dieses Ziel, und der Vorwurf des Hintergehens gehört zu den schlimmsten Beleidigungen, mit denen man mich treffen kann. Entsprechend getroffen war ich auch und reagierte mit einem wortreichen Bedauern, dass er zu dieser Sicht der Dinge gekommen sei. Jetzt ziehe ich in Erwägung, dass der Kollege gar nicht wirklich annimmt, ich hätte gegen ihn intrigiert: Er wollte mich lediglich treffen und verletzen. Auch das tut mir zwar leid, auch dafür wüsste ich gerne den Grund. Doch es nimmt mich erheblich weniger mit als das Wissen, dass jemand, mit dem ich mehrfach gut zusammengearbeitet habe, mich für eine falsche Schlange und Ränkeschmiedin hält.
Mir fällt eine weitere Meisterin in Partnerschaftsstreit ein: Peppinella. Sie schildert immer wieder, wie sie und ihr Partner kunstvoll jede Aussage des anderen durch ihre Reaktion in einen angeblichen Angriff verwandeln. Meisterstreiter bringen es offensichtlich fertig, bereits Streitbereitschaft zu projizieren.
Könnte es sein, dass Streit vor allem in der Partnerschaft eine Art unendliches Konto ist, in dem beide Seiten für sich penibel, aber doppelt Buch führen? Die Währung wären Kränkungen und Rechthaben. Ich fühle mich von ihm verletzt oder missachtet, also habe ich ein Soll auf meinem Konto. Das kann ich mit jeder Art von Gegenkränkung oder Rechthaben bei unterschiedlicher Ansicht ausgleichen. Da er aber sehr wahrscheinlich die erste Kränkung gar nicht mitbekommen hat, sieht er das Konto dann für sich im Soll und sucht nach einer Kränkungs- oder Rechthabgelegenheit, mit der er es aus seiner Sicht ausgleichen kann. Und so weiter und so fort. Ich habe mir ja schon von Küchenpsychologen mit Frauenzeitschriftenabschluss erklären lassen, dass es in Streits fast nie um das Thema geht, das explizit be-stritten wird, sondern um die Dinge, die Unwillen ausgelöst haben, aber nicht kritisiert wurden.
Ich sehe eine Chance, doch noch das Streiten zu lernen. Wenn ich also das nächste Mal enttäuscht bin, weil mir der Mitbewohner von einer Köstlichkeit nicht mal eine Probiermenge übrig gelassen hat, gehe ich nicht mit der leeren Schachtel zu ihm, lasse die Schultern hängen und klage: „Och, du hast mir ja nicht mal was zum Probieren übrig gelassen!“ Sondern sage nichts. Und dann fresse ich ihm an Ostern alle Krokanteier aus dem Nesterl, das er von seiner Mutter bekommt, obwohl ich die gar nicht mag. Halt nein, das wäre zu nah am eigentlichen Unwillen. Nein, ich weise ihn bei nächster Gelegenheit darauf hin, dass schon wieder eines seiner Hemden überm Bauch spannt. Was so gemein wäre, dass ich schon beim Gedanken daran Herzweh bekomme. Aber niemand hat gesagt, dass Streiten Spaß machen soll, richtig?