Noch scheue ich mich, über das Drumherum des Bachmannpreislesens zu sprechen (Reizüberflutung, nehme ich an) und bleibe bei den Teilen, die man auch im Fernsehen mitbekommt. Den Rahmen hebe ich mir für einen Abschlusstext auf. Bis dahin empfehle ich die Beobachtungen von Martin Fritz, unter anderem, weil ich drin vorkomme.
Noch ein Hinweis: Die Zeit hat als Klagenfurterklärung Katrin Passigs Text online gestellt, der das Vorwort zu Angela Leinens Wie man den Bachmannpreis gewinnt ist. Aus dem Frau Passig übrigens in der Eröffnungsveranstaltungsrede zitiert wurde.
Ich setzte mich wieder ins Studio, die Bühnenatmosphäre formt meine Rezeption der Texte sehr mit. Wieder hörte ich nur zu. Heute war tatsächlich ein durch und durch ungenügender Text dabei – so sehr, dass sich Publikum (ich eingeschlossen) und Jury einig waren. Die anderen drei interessierten mich, wenn auch nicht so sehr, dass ich mehr davon haben möchte. Im Einzelnen:
Peter Wawerzinek, „Ich finde dich/Rabenliebe“ (vorgeschlagen von Meike Feßmann)
Im Vorstellungsfilm ging es um Vergangenheit und Erinnerung, gedreht in einem verfallenden Kinderheim. Und auf der Bühne begann Herr Wawerzinek in freier Rede mit einer Widmung der Lesung, und zwar einer Dame, die die „gute Seele des Alfred-Döblin-Heims“ gewesen sei und jetzt im Krankenhaus liege. Wenn sein Text irgendwo anders gespielt hätte als in einem DDR-Kinderheim, hätte Wawerzinek den Verblüffer des Tages erreicht.
Sein Erinnerungen sind kunstfertig formuliert, bedienen sich verschiedener Sprachebenen bis hin in den Duktus Grimm‘scher Märchen. Das Fragmentarische des Rückblicks erinnerte mich an das Beckett-Stück Das letzte Band, das ich kürzlich in den Kammerspielen gesehen hatte. Eingemischt sind Zeitungsmeldungen über misshandelte Kinder und ein Radio-Eriwan-Witz. Die Geschichte rollt den Mechanismus der Verarbeitung unangenehmer Erinnerungen auf, „Erinnerung gegen jede Vernunft“. Das gefiel mir sehr gut und nahm mich mit, ich begann mich für den Roman zu interessieren, aus dem dieses Stück Text stammt. Doch dann endete er mit einem Lexikon- oder Schulbuchtext über die Entstehung von Lauten beim menschlichen Sprechen und hörte damit gar nicht mehr auf. Wenn sowas öfter im Roman vorkommt, will ich ihn doch nicht lesen.
Die Jury war sich nicht einig, ob sie die Vielfalt der erzählerischen Mittel gut oder schlecht fand. Fleischanderl diagnostizierte wieder Kitsch (mich würde interessieren, ob es überhaupt eine vergleichende Gefühlsschilderung gibt, die vor ihr Gnade findet), stieß sich auch daran, dass ihre literarische Welt von Schilderungen von Kindsmisshandlung überflutet wird. Feßmann hielt dagegen, dass, was Fleischanderl als Kitsch bezeichnet, Leitmotive seien (Schnee, Nebel, Krähen) – Fleischanderl dankte für die Lehrstunde. Nachdem Keller darauf hinwies, dass die Bilder in erster Linie Kinderwelten evozieren, meldete sich der Autor zu Wort und betonte, das Schreiben dieses Buches sei nicht einfach gewesen, er habe Jahrzehnte gebraucht, um seine Erlebnisse schriftstellerisch aufarbeiten zu können. Ich sehe mich in meiner Grundhaltung bestätigt, dass mich der Autor bei der Rezeption und Wertung eines Textes ausgesprochen wenig interessiert.
Das Publikum war ganz auf der Seite Wawerzineks und wurde bei fast jeder Kritik an seinem Text protestierend unruhig.
Iris Schmidt, „Schnee“ (vorgeschlagen von Hildegard Elisabeth Keller)
Von Frau Schmidt gab es keinen Vorstellungsfilm, sie las gleich los und ich hatte den Eindruck, vielleicht irgendetwas Wichtiges am Anfang nicht mitbekommen zu haben. Denn diese banale Holzschnittschilderung einer Autofahrt und Übernachtung in einer Pension konnte ja wohl nicht alles sein. Doch ich hatte nichts verpasst, und es kam noch schlimmer: Die Banalität nahm eine überraschende Wendung in eine Horrorgeschichte – mit Erinnerungen an unzählige klassische Gruselgeschichten, die wir uns im Handarbeitsunterricht erzählt hatten (tut mir leid, die klassische Lagerfeuersituation habe ich dafür nie erlebt). Aufsatzauftrag „Erlebniserzählung mit dramatischer Wende“ brav ausgeführt, eine schlichte Schreibübung.
Die Jury vernichtete das Werk mit ihrer schärfsten Waffe: Schweigen. Spinnen bat eingangs: „Ich hoffe, dass die Besprechung des Textes kurz und sachlich verläuft.“ Jandl versuchte zwar noch eine Kafka-Situation zu entdecken, Vorschlägerin Keller hatte ein augenzwinkerndes Entlangschreiben an Klischees gelesen, doch Winkels sprach von einem „Stephen King für Arme“. Insgesamt bekam der Text höchstens zehn Minuten Aufmerksamkeit der Juroren. Niederschmetternd.
In der anschließenden Pause beobachtete die Frau hinter mir in der Kloschlange (wir sind schließlich alle Juroren) treffend: Das war Verrat. Da bekommt eine Autorin durch die Einladung nach Klagenfurt das Gefühl, sie werde willkommen geheißen und gehöre dazu, und dann signalisiert man ihr in wenigen Sätzen, dass sie hier nichts verloren hat.
Christian Fries, „Hutmacher, privat“ (vorgeschlagen von Paul Jandl)
Herr Fries las nicht am Tisch, sondern auf Hocker und an Notenständer. Erst mal versorgte er das Publikum mit Fußnoten zum Text, erklärte dessen Aufbau und lieferte die Wikipedia-Information zum im Text auftauchenden Wilhelm Reich, weil man den ja heute nicht mehr kenne, „aber es ist kein gelehrter Text, keine Angst“. Damit hatte er bei mir schon mal verschissen: Ein Autor soll in den Text schreiben, was er sagen will, auf welche Weise auch immer. Die Rezeption und Interpretation soll er bitte uns Lesern überlassen.
Fries schauspielte seinen Text eine halbe Stunde lang „nach allen Regeln der Kunst“, wie es der Rezensent vom Hinterkloifflinger Lokalblatt ausdrücken würde: Er sprach leise und laut bis zum Brüllen, er setzte seine vielen, vielen Pointen mit Gefühl für Timing. Das war schon eine sehenswerte Show, wie sie sich ganz ausgezeichnet für eine Fernsehsendung eignet. Und den launigen Text aus dem Schauspielschülermilieu mit einem Protagonisten, dessen Eltern sich gerade haben scheiden lassen, kann ich mir als vergnügliche Lektüre in einer Gazette vorstellen (ich mochte auch Kleine Haie sehr). Nur war es in meinem Ohren ein billiges Lachen, das durchs Publikum ging, die belachten Figuren der Geschichte waren mir egal.
So warf ihm die Jury auch billige Mittel und Witze vor, Winkels vermisste einen Bezugspunkt all der Kalauer und Pointen, des Slapsticks. Feßmann meinte sogar, beim Selbstlesen habe sie hinter dem Text eine Ebene gesehen, die im Vortrag völlig verschwunden sei. Was Winkler „misslungenen Versuch, uns Humor einzubläuen“ nannte, bezeichnete Fleischanderl als „Wuchtldruckerei“. Laut Keller bot der Ich-Erzähler den Blick auf „viele aktuelle Elemente der Gesellschaft“ – vermutlich musste ich deshalb sofort an Lifestyle-Magazine denken.
Spinnen äußerte die Hoffnung, dass diese Highlights in Romanform in einen ruhigeren Erzählfluss eingebettet sein würden. Diese wurde ihm aber umgehend vom Autor selbst genommen: Nein, eigentlich sei der ganze Roman so.
Verena Rossbacher, „schlachten. Ein Alphabet der Indizien.“ (vorgeschlagen von Burkhard Spinnen)
Ich hatte den Anblick von Frau Rossbacher in den letzten Tagen immer genossen: Die Dame kleidete sich auffallend und bunt, in schlanke, exotische Gewänder, über dem Rücken ihr langer Zopf – eine mit Selbstbewusstsein auffallende Erscheinung.
Über ihren Vorstellungsfilm hatte ich schon viel gehört, meist von Kopfschütteln begleitet. Selbst fand ich das Geblödel, in dem sie selbst gar nicht auftauchte, erfrischend.
Ganz in Schlicht und Schwarz, das Haar zu einem kindskopfgroßen Knoten im Nacken gebunden, saß Verena Rossbacher dann am Tisch und las – wie ich es noch nie in einer Lesung gehört hatte. Fast ohne Wortgrenzen säuselte und raunte sie mit einem Lächeln im Gesicht und mit Ganzkörpereinsatz – eine beschwörende Priesterin.
Der Text klang magisch. Assoziationsketten aus dem Moment und seinem Handeln wie in Ulysses. Andere Ketten und Bilder, die sich aus dem Blick aus dem Zugfenster ergaben. Sie führten scheinbar in beliebige Befindlichkeiten, ergaben dann aber doch in vielen Mosaiksteinen die Erinnerung an ein Gemälde, in das tief eingetaucht wurde, dann schlugen die Fragmente eine Brücke zur griechischen Mythologie und alles wieder zurück. Irgendwann schälte sich heraus, dass diese Welle an Assoziationen nur eine ganz besonders unangenehme und schuldbeladene Erinnerung überdecken sollten, und so entstand zusätzlich eine gewisse Spannung. Eine überbordende, barocke Fülle an Eindrücken und Erinnerungketten entfaltete sich in Rossbachers Beschwörung, und mir machte erstaunlicherweise gar nichts aus, dass ich keine Geschichte erzählt bekam. Mir gefiel das hemmungslose Weiterdenken von Bildern (ich werde wohl nie wieder den roten Faden verwenden können), das dennoch eine Struktur hatte, und sei es nur die äußerliche des Alphabets, dessen Einzelbuchstaben immer wieder Absätze bildeten.
Andererseits: Diese Textsorte ohne Grammatik ist beim Selbstlesen ein Gewaltakt; ich hätte ihn, wie ich beim anschließenden Blick in den Ausdruck feststellte, nicht länger als drei Seiten lang durchgehalten. Würde mir aber jederzeit und mit Vergnügen mehr davon vorraunen und -säuseln lassen.
Das Publikum applaudierte lange. Fleischanderl bezeichnete den Text als „eine auf Hochtouren laufende Sprachmaschine“, die aber nicht greife, praktisch im Leerlauf sei. Sie warf Spinnen vor, an seiner Wahl sei wie auch in den vergangenen Jahren zu sehen, dass Deutsche kein Gespür für österreichische Tonfälle hätten und sich deshalb von Texten wie dem Rossbachers blenden ließen. Feßmann verurteilte den „grauenhaft manierierten Text“, der brülle „ich bin Kunst“. Zu meinem Erstaunen war wohl doch mehr Handlung darin gesteckt, als ich mitbekommen hatte; Feßmann hatte sie zumindest gefunden. Sulzer hatte sich nach dem ersten gescheiterten Leseversuch doch noch aufgerafft und ein Kaleidoskop gesehen, das ständig gedreht wird – sah diesen Effekt aber durch Rossbachers Vortrag zerstört. Jandl fand alles zu viel, es habe ihm „bald gelangt“. Aus Spinnens Sicht war der Text ein „Versuch, Denken abzubilden“, und das gehe nicht mit Realismus. Keller stellte den Vortrag selbst in den Vordergrund, der der Verkündigungsszene ein zusätzliches Element zur Seite gestellt habe: Den Heiligen Geist.