Archiv für Oktober 2010

Glücklichmacherin

Montag, 11. Oktober 2010

Der Eindruck mag natürlich davon herrühren, dass die Feinkostabteilung des Kaufhofs am Marienplatz der Lebensmittelladen ist, in dem ich prozentual am häufigsten einkaufe, doch: Das Kassenpersonal dort ist besonders. Mir kommt es vor, als arbeiteten dort nur Originale jeden Alters und jeder Herkunft, bei jedem vermute ich eine wirklich interessante Lebensgeschichte. Der Herr mit dem Aussehen eines türkischen Obstladenbesitzers, der mich jedesmal mit einem Lächeln begrüßt, als kenne er mich schon ewig. Die Endfünfzigerin mit Brille, die ich trotz osteuropäischen Akzents sofort in einer italienischen Küche vor mir sehe, umwuselt von Enkeln, denen sie köstliche Pastagerichte kocht. Dann wieder die recht abgekämpft aussehende Dame im selben Alter mit sorgsam gefertigter Hochsteckfrisur und ebenfalls osteuropäischem Akzent, die ich mir – vermutlich wegen ihres auffallend elaborierten Vokabulars und Satzbaus sowie wegen des weißen Kittels – als Professorin in einem Chemielabor vorstelle, 30 Laboranten und Laborantinnen dirigierend.

Und am Samstag traf ich auf eine Glücklichmacherin. An der Kasse saß eine Frau mittleren Alters mit ganz vielen blondierten Löckchen. Sie strahlte eine Ruhe aus, die ich mir gerne für die Tage vor einer Präsentation oder vor der Leitung eines Workshops auf Flaschen ziehen würde. Sie lächelte wie Guinan hinter der Bar der USS Enterprise, als sie meine Einkäufe über den Scanner zog. Und als ein junges Mädchen sich auf der falschen Seite anstellte, sie sie darauf hinwies und sich das Mädchen errötend entschuldigte, beruhigte sie sie mit leichtem nicht-deutschen Akzent: „Nichts passiert, Schätzchen. Macht gar nichts, Goldstück.“ Ich strahlte vermutlich noch, als ich am Sendlinger Tor aus der U-Bahn stieg.

Tag 10 – Ein Buch von deinem Lieblingsautoren/deiner Lieblingsautorin

Montag, 11. Oktober 2010

Auch da kann ich mich nur annähern: Ein Autor, den ich für seine Handwerkskunst sehr schätze und von dem ich immer noch jedes neue Buch so bald nach Erscheinen lese wie möglich, ist John Irving. Die meisten seiner Bücher habe ich mehrfach gelesen, sie begleiten abwechselnd stark meine Assoziationswelt. Derzeit habe ich beruflich ein wenig mit Indien zu tun, eine Freundin ist gerade durch Südindien gereist, also werde ich derzeit am häufigsten an A Son of the Circus erinnert.

Der Roman kam heraus, als ich gerade in der Endphase meiner Magisterarbeit steckte (in der ich John Irvings Bücher mit denen des von ihm verehrten Charles Dickens verglich). Da ich es unbedingt gleich lesen wollte, sammelte ich alle Energie und arbeitete ein paar Abende durch (als Lerche hatte ich sonst immer von frühmorgens bis gegen sieben Uhr abends daran gesessen). So schaufelte ich mir zwei Tage frei, in denen ich das Buch lesen konnte.

Zu meiner unvollendeten Dissertation gehörte dann eine detaillierte Analyse der Erzähltechnik in A Son of the Circus: Ich hatte herausfinden wollen, warum Irvings Bücher kulturübergreifend ein Massenerfolg sind, warum alle Leser an bestimmten Stellen lachen (“But no; it was just the fucking.”), an bestimmten Stellen erschrecken – wie war das gemacht?

Am liebsten läse ich es sofort gleich nochmal. Und dann The Hotel New Hampshire und The World According to Garp.

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Oktobermorgen an der Isar

Sonntag, 10. Oktober 2010

Jessas, war das heute Morgen schön an der Isar!

Tag 9 – Das erste Buch, das du je gelesen hast

Sonntag, 10. Oktober 2010

Astrid Lindgren, Cäcilie Heinig (Übers.), Pippi Langstrumpf. Zumindest habe ich immer behauptet, das sei mein erstes selbst gelesenes Buch – wird schon so gewesen sein. Auch wenn ich vor der ersten Klasse bereits das Eine oder Andere entziffern konnte, scheine ich eine der wenigen hartgesottenen Leseratten zu sein, die Lesen erst in der Grundschule gelernt haben. Mit Setzkasten, bei der jungen Frau Neugebauer, die mich und mein Temperament klasse fand und es mit „aufgeweckt“ und „kreativ“ umschrieb. Die erheblich ältere Lehrerin in der zweiten Klasse verwendete später dafür die Bezeichnungen „vorlaut“ und „aufsässig“.

Das Buch enthält die drei Bände Pippi in der Villa Kunderbunt, Pippi geht an Bord und Pippi in Taka-Tuka-Land. Diese fiktive Figur wurde für mich noch am ehesten Vorbild, wenn ich denn jemals eines hatte: Materiell unabhängig, unkonventionell, loyal, impulsiv, ungebunden, physisch so stark, dass sie mit praktisch jeder Situation fertig wurde und dabei noch andere rettete. Diese grenzenlose Autarkie zieht mich bis heute an.

Die Illustrationen von Rolf Rettich haben sich mir tief eingebrannt, und haben meine inneren Bilder erheblich stärker geprägt als die Verfilmung. (Hat jemand noch den Schutzumschlag? Meiner war so schnell fort, dass ich mich nicht mal an ihn erinnere.)

Teig für Pfefferkuchen auf dem Boden ausrollen! (Ich lernte zwar erst viele Jahre später, was Pfefferkuchen ist, aber dass es sich um einen süßen Knetteig handelte, war mir klar.)

Kaffekränzchen AUF einem Baum – wie großartig war das denn? Nach einem Umzug in einen anderen Wohnblock stand mir endlich ein ordentlicher Kletterbaum zur Verfügung, in dem ich viel Zeit mit meiner Freundin Iris verbrachte. Wir versuchten auch Picknicks in Astgabeln sitzend, doch mangels einer größeren Fläche war das nicht entfernt so wunderbar, wie es auf diesem Bild aussieht.

Sogar Putzen konnte spaßig sein.

So hat man beim Lebenretten auszusehen: Singend, lachend, tanzend – nicht mit grimmigem Gesicht wie in all den Action-Filmen.

Alle Kinder auf einen Rollgriff im Süßigkeitenladen einladen – ein Traum.

Genau so hätte ich mich mit sechs, sieben Jahren bei freier Auswahl fein gemacht (minus Mieder – ich wusste nicht, was das war).

Auch dieses Schwungseil in den See: ein Traum. Tatsächlich kam ich erst als Studentin in den Genuss, an einem klitzekleinen See in der Nähe von Augsburg. Es war großartig.

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Tag 8 – Ein Buch, das dich an einen Ort erinnert

Samstag, 9. Oktober 2010

Robert Harris, Fatherland erinnert mich an den Parque del Retiro in Madrid.
Ich machte Ende der 90er in Kastilien Urlaub, in einem Café im Parque des Retiro wollten wir eigentlich nur etwas trinken, uns ein wenig ausruhen, ein bisschen lesen. Doch ich konnte mich nicht von Fatherland losreißen: Statt mit weiterem Madrid-Sightseeing verbrachte ich die folgenden Stunden damit, den Roman auszulesen.

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It gets better

Samstag, 9. Oktober 2010

Die Lebensgeschichten von Schwulen und Lesben sind bis heute im seltensten Fall einfach. Ihr Erwachsenwerden ist meist um ein Vielfaches schwieriger als ohnehin schon, wenn sie in einer heteronormativen Welt feststellen, dass sie nicht dazu passen, dass irgendwas nicht stimmt.

In den USA fällt derzeit eine Serie von Selbstmorden schwuler Teenager auf, die wegen ihrer Homosexualität erniedrigt, verfolgt und beschimpft wurden. Das war Anlass für ein bewegendes Projekt: It gets better. Erwachsene Schwule, Lesben und Transgenders erzählen auf YouTube ihre Geschichte, um Teenagern Mut zu machen: Es wird nicht immer so schlimm bleiben, wie es jetzt ist, es wird besser – wirklich. Die Begründung des Projekts auf YouTube:

Billy Lucas was just 15 when he hanged himself in a barn on his grandmother’s property. He reportedly endured intense bullying at the hands of his classmates—classmates who called him a fag and told him to kill himself. His mother found his body…. I wish I could have talked to this kid for five minutes. I wish I could have told Billy that it gets better. I wish I could have told him that, however bad things were, however isolated and alone he was, it gets better.

But gay adults aren’t allowed to talk to these kids. Schools and churches don’t bring us in to talk to teenagers who are being bullied. Many of these kids have homophobic parents who believe that they can prevent their gay children from growing up to be gay—or from ever coming out—by depriving them of information, resources, and positive role models.

Why are we waiting for permission to talk to these kids? We have the ability to talk directly to them right now. We don’t have to wait for permission to let them know that it gets better. We can reach these kids.

Vielleicht mögen Sie mit diesem Video anfangen: It gets better – and funnier.

Aufmerksam wurde ich auf das Projekt ausgerechnet über ein amerikanisches Foodblog: Amateur Gourmet Adam Roberts beschreibt ein Abendessen, das er für seine Eltern und die Eltern seines Partners Craig zubereitet hat. Adam erzählt dabei, wie undenkbar dieser Abend noch vor zehn Jahren gewesen wäre – und beweist: It gets better.

Tag 7 – Ein Buch, das dich an jemanden erinnert

Freitag, 8. Oktober 2010

Oh, da habe ich sehr, sehr viele. Mal ein paar davon alphabetisch nach Autor:

Die ersten drei Bände von Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis in der Ausgabe von Zweitausendeins erinnern mich an Hermann, der sie mir das eine oder andere Jahr vor dem Abitur empfohlen hat.

Margaret Atwoods Wilderness Tips habe ich mir auf Empfehlung von Hiwi-Kollegin Andrea gekauft, die mir zunächst eine Geschichte daraus zugefüttert hatte.

Nick Bantock, Griffin & Sabine. An Extraordinary Correspondence war eines der ersten Bücher, das mir der Mitbewohner schenkte – deshalb erinnert es mich an ihn.

Louis de Bernières Captain Corelli’s Mandolin erinnert mich an Louis de Bernières, den ich bei einem vom British Council organisierten Besuch an meiner Uni kennenlernte.

Und das war nur ein flüchtiger Blick auf den ersten halben Meter Regalwand.

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