Sibylle Berg, Der Mann schläft
Mittwoch, 17. November 2010 um 12:54Die Misanthropin, die als Erzählerin im Zentrum von Sibylle Bergs Der Mann schläft von 2010 steht, hat mich meist an Else Buschheuer erinnerte, manchmal auch an Frau Modeste, hin und wieder an Frau Gaga. So sehr war noch keine meiner Buchlektüren von Blogleserei beeinflusst. Else Buchheuer äußert ihre Unbehagen den Menschen gegenüber inzwischen hauptsächlich bei Twitter (z.B. „merke: auf die einleitungsfrage‚ darf ich offen zu Ihnen sein?‘ stets frenetisch den kopf schütteln!“). Frau Modeste ist den Menschen erheblich zugetaner, leidet aber doch hin und wieder an den Durchschnittsexemplaren der Gattung. Gaga wiederum hat kürzlich einige anerzogene Hemmung fallengelassen und zugegeben, wie sehr sie oft menschliche Kontakte als Belästigung empfindet.
Die Erzählerin ist eine nicht mehr junge Frau, die bis in ihr Innerstes am liebsten für sich ist. Die Grundtriebe nötigen sie dazu, ihre Wohnung hin und wieder zu verlassen und mit Menschen in Kontakt zu treten, doch selbst diese Interaktionen kosten sie immer mehr Energie. Das macht die Fassungslosigkeit nachvollziehbar, mit der diese Frau eines Tages vor der Entdeckung steht, dass es einen Menschen gibt, der sie überhaupt nicht stört, in dessen Anwesenheit sie sich sogar wohler fühlt als in dessen Abwesenheit, um den sie sich sorgt, den sie auch ohne erotisches Begehren physisch herbeisehnt.
Die Geschichte hat zwei Handlungsstränge, die einander kapitelweise abwechseln: Der eine beginnt vor vier Jahren und erzählt die Zeit, in der die Ich diesen Mann kennenlernte und ein Leben mit ihm begann. Der zweite spielt in der Gegenwart auf einer Insel vor Hongkong, auf der sich die Frau jetzt ohne den Mann befindet. Die Vergangenheit erzählt sie bis heran an die Gegenwart, in den letzten Kapiteln decken sich die Stränge. Im Zentrum stehen die Liebe und der unerträgliche Schmerz der Erzählerin, erzeugt durch die Lücke, die die Abwesenheit des Mannes hinterlassen hat.
Wieder wünschte ich, ich hätte den Klappentext nicht gelesen: Er nimmt als Tatsache vorweg, was der Roman zumindest im ersten Drittel lediglich als Möglichkeit durchscheinen lässt, nämlich was mit dem titelgebenden Mann, der schläft, los ist. Kann sich eine Autorin dagegen nicht wehren? Hat man ihr erklärt, das Buch werde sich nicht verkaufen, wenn dem Klappentext diese Schlüsselinformation fehlt? Zum wiederholten Mal nehme ich mir vor, Klappentexte erst nach der Lektüre eines Romans zu lesen.
Die Erzählerin drückt sich ausgesprochen manieriert aus – sie scheint nicht nur der Menschen, sondern auch ihrer heimeligsten Wörter überdrüssig. Manchmal treibt sie das bis hart an die Grenze des Hinnehmbaren, zum Beispiel wenn sie einen fehlgeschlagenen Morgengruß mit „versuche ich ihr die Tageszeit zuzuraunen“ ausdrückt.
Fast keine der Personen hat einen Namen, sie sind „der Mann“, „der Masseur“, „die schwierige Bekannte“, „der unsichtbare Herr“, „die Prostituierte“. Ausnahmen sind ein Mädchen namens Kim und ein Cafébesitzer Jack. Die Geschichte all dieser Menschen sind Teil des Romans, mal mehr, mal weniger konventionell erzählt.
Eigentümlich ist der Roman, doch ist er surreal oder bloß nicht-realistisch? Viele Details sind bizarr, zum Beispiel spielen selbst gebaute Archen / Raumschiffe und Ritualmorde eine Rolle. Und die Wahrnehmung der Erzählerin entzieht sich gerne mal normaler Überprüfbarkeit – wenn sie zum Beispiel beiläufig berichtet, dass sie durch ein Fenster einen aus der Schule heimkehrenden Buben beobachtet, der seine Großmutter umarmt und ihr dann ein Beil in den Kopf schlägt. Andere Details wieder widersetzen sich einfach den Erwartungen an realistisches Erzählen: Geld kommt im ganzen Roman nicht vor, nie wird etwas bezahlt, und die materielle Grundlage für einen monatelangen Aufenthalt auf einer asiatischen Ferieninsel ist kein Thema.
Dann wiederum liefert die Geschichte die realistischste Beschreibung von Liebe, die ich je gelesen habe. So kam ich ja auch auf das Buch: über ein Interview mit Sibylle Berg. Die Klischeeliebe der Filme, der Musiktexte, der Werbung will uns nur Dinge und Dienstleitungen verkaufen, so erzählt es auch der Roman – es ist völlig hirnrissig, sich zur Sehnsucht nach dieser Klebrigkeit manipulieren zu lassen. Die Liebe in Der Mann schläft, die einfach dafür sorgt, dass es jemandem dauerhaft besser geht, kommt in der Literatur kaum vor (obwohl sie durchaus romantisch im kulturhistorischen Sinn ist und irrational). Vielen Dank den Vorspeisenplattenkommantatorinnen und -kommentatiren für den Lesetipp.
(Auch beim Common Reader.)
die Kaltmamsell10 Kommentare zu „Sibylle Berg, Der Mann schläft“
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17. November 2010 um 16:58
Wissen Sie eigentlich, dass ganz viele Ihrer Buchbesprechungen bzw. Leseempfehlungen auf meinem Wunschzettel und damit irgendwann in meinem Bücherregal landen? Dafür einmal vielen Dank.
17. November 2010 um 18:43
Misanthropin – na danke! Ich liebe Menschen! (wie mich zum Beispiel und Pippi Langstrumpf und dann noch äh…). Das sind halt nur eben sehr wenige! Da muss man sich demütig arrangieren. Ungerne möchte ich die Menschen mit meinen Gefühlen der Langeweile belästigen (außer über Internet natürlich).
;-)
Das mit dem narrativ Erschließen (zylinderförmiges Papierröhrchen) ist eine der Geißeln unserer Zeit, welche ich geißeln muss. Das hätte es früher nicht gegeben! Da hatten die Leute wahrscheinlich noch nicht so die Hosen voll, dass die naheliegende Formulierung irgendwie untalentiert wirken könnte. So ein Kompensations-Dings. Man muss da nachsichtig sein. Aber nicht mit Schriftstellern!
17. November 2010 um 19:00
Ah, unvorsichtig ausgedrückt, Gaga – wo ich doch Ihre Menschenliebe kenne. Es war die Verweigerung der Konvention, der Mensch müsse sich Nähe und Gesellschaft wünschen, allzeit für Kontakte offen sein, in der ich die Parallele sah.
Die manierierte Sprache würde ich nicht so hastig der Schriftstellerin unterstellen wollen – ich habe sie als Charakterisierung der erzählenden Figur genommen. Unter anderem deshalb möchte ich mindestens ein weiteres Buch von Frau Berg lesen: Um herauszufinden, ob das vielleicht doch ihr Stil ist.
Das ist große Verantwortung, das Miest, die ich dadurch trage.
17. November 2010 um 19:02
Den Klappentext erst hinterher lesen klappt auch nicht. Ich halte das nämlich schon länger so, aber ich lese ihn dann meist gar nicht mehr. Wozu auch?
17. November 2010 um 19:25
Da ist schon was dran, liebe Kaltmamsell.
Dafür bin ich manchmal tierlieb. Ich hatte unlängst zum Beispiel ein inniges Tête-à-tête mit einer anmutigen Feuerwanze (Pyrrhocoris apterus). Oft und gerne denke ich daran zurück!
Manchmal finde ich von Weitem sogar Kinder niedlich, wenn Sie überdurchschnittlich intelligent gucken, besonders attraktiv aussehen und vor allem gute Zuhörer sind. Im Prinzip vergleichbare Kriterien wie für Erwachsene. Ich bin wirklich streng. Da gibt es nichts zu beschönigen. Insofern ein Segen, wenn man möglichst wenig mit mir zu tun hat. Allerdings ist diese schlimme Wahrheit nicht immer leicht zu identifizieren, weil ich bei selbstgesteuerter Kontaktbereitschaft ziemlich nett und kommunikativ sein kann. Dann gebe ich zur Verwirrung meiner Mitmenschen alles. Zum Glück kann man heutzutage über ein Blog Gebrauchsanleitungen für sich selber schreiben.
22. November 2010 um 8:14
Ich habe das Buch vor einem Jahr gelesen und geliebt und mich mit dem Mann im Haus darüber unterhalten, der das Buch auch sehr geschätzt hat und es dann auf Weihnachten hin ein paar Mal erfolgreich verschenkt. Mir wäre bis jetzt keine (original deutsche) modernere Liebesgeschichte über den Weg gelaufen, weshalb man es auch diese Weihnachten getrost verschenken kann, ohne has-been zu wirken.
(Klappentexte sind ein Problem, nicht nur wegen zu früh ausposaunten Informationen. Aber diesen speziellen Fall werde ich dem Hanser-Vertreter in der CH gleich weitermelden.)
23. November 2010 um 11:43
Nochmal zum Klappentext: Also, der absolut vertrauenswürdige Hanser-Vertreter in der Schweiz – der ja wegen Frau Bergs Wohnort ZH ziemlich zuständig ist – versichert mir, dass bei Hanser die Autorinnen und Autoren grossen Einfluss und Mitsprache bei Titel/Titelbild/Klappentext/Blurb hätten und dass Frau Berg intensiv davon Gebrauch mache. Ich denke also, dass wir davon ausgehen können, dass der Klappentext in der Autorin Sinne war, auch wenn natürlich – auch gemäss Vertreter – klar ist, dass Markting und Autorinnen/Autoren sich ab und an uneins sind.
23. November 2010 um 12:42
Oh, vielen Dank, Tanja! Dann muss ich also künftig auf die Autoren und Autorinnen schimpfen, die uns Lesern das eigene Werk verderben.
23. November 2010 um 19:50
Ich sammle im AVEN-Forum Romane mit asexuellen Figuren (Liebenden ohne sexuelles Begehren), wäre dieses Buch da möglicherweise interessant?
23. November 2010 um 20:39
Nein, Tock, es handelt sich nicht um asexuelle Figuren.