Ein Weihnachtsurlaubstag
Donnerstag, 30. Dezember 2010 um 9:57Ich hatte mir sogar den Wecker gestellt, weil ich in eine bestimmte Turnstunde gehen wollte und vorher noch ausführlich Kaffeetrinken.
Durch die Turnstunde („TBC“ – nein, hat nichts mit Lunge zu tun, sondern soll Total Body Conditioning abkürzen: Die Turnerinnen werden durch einfache Aerobicbewegungen in höhere Pulsregionen geführt, begleitet oder unterbrochen von Kraftübungen mit oder ohne Gewichten) führte eine Aushilfsvorturnerin mit gar zu putzigem, osteuropäischem Akzent. Sie kommandierte zum Beispiel beim Wechsel auf eine andere Seite: „Wjechseln!“ Hörte sich für mich russisch an. Auch semantisch lag sie an der einen oder anderen Stelle leicht daneben: Kraftübungen werden in verschiedenem Ryhthmus ausgeführt, mal ganz langsam, mal mit Zwischenstopp auf halber Höhe, mal in kurzem Wippen – das die Vorturnerin mit „jetzt schaukeln!“ anwies. Ich finde es immer wieder bezaubernd, welche poetische Tiefe meine Muttersprache Deutsch in der Verwendung durch Fremdsprachler bekommen kann. (Da war zum Beispiel der zugewanderte Patient eines Neurologen, der auf die Frage nach seinen Beschwerden auf seinen Unterarm deutete und klagte: „Nix hören!“)
So richtig gefordert hatte mich dieses TBC nicht, und so trabte ich noch ein Stündchen auf einem Laufband mit Blick auf den Straßenverkehr.
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Die ausführliche Stilberatung in Sachen „Coole Turnschuhe für meinen Bruder“ (ganz herzlichen Dank!) hatte mir genug Material verschafft, mit dem ich dem Herrn einen 16-seitigen Katalog zusammenstellen konnte. Ich hatte die Modelle ausgesucht, die ich nach Auswahl sofort in der passenden Größe im Internet bestellen konnte, und sie mit Fotos und den Umschreibungen der werten Kommentatoren und Kommentatorinnen (inklusive Quellenangabe natürlich) vorgestellt. Bei der Wahl der Schriftart für den Katalog hatte ich mich zwar von meinem Typo-Nerd-Kollegen beraten lassen, mich aber doch für Courier New entschieden (die anscheindend ziemlich uncool ist).
Mein Herr Bruder neigte deutlich den Zeha-Modellen zu, höchstens noch dem Asics Tiger, doch wollte er am liebsten auf mein Angebot zurückkommen, mit ihm in München Einkaufen zu gehen. Indem er auf einer Rückfahrt von einem Ausflug mit der ganzen fünfköpfigen Familie gestern auf heute bei uns übernachten würde und mit mir nach Turnschuhen schauen.
Wer hier eine Zeit lang mitliest, kann sich vorstellen, in welchen Stress mich diese Ankündigung stürzte. Aber in bestimmter Weise hatte ich mir das selbst eingebrockt, also musste ich da durch. Eine ganz winzige Hoffnung setzte ich in den Umstand, dass die Bruderfamilie mit einer äußerst labilen Gesundheit gestraft ist. Mein Bruder war von Kindesbeinen an sehr häufig krank, hat sich eine Partnerin ausgesucht, die mindestens so oft von Infekten niedergemäht wird wie er, dazu kommen drei Kinder, die – womöglich kindertypisch – alle naslang wegen erschreckend heftiger Erkrankungen und Verletzungen in der Notaufnahme von Krankenhäusern landen. Dieser Umstand hatte schon so manches großes Familientreffen dezimiert, so manche Ausflugspläne zerstört – vielleicht könnte er ja auch diesmal?
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Nach dem Turnen schaute ich also in zwei Turnschuhläden nach Sortiment und Öffnungszeiten (diese Onitsuka Tiger sehen in Echt ja ausgesprochen windig aus).
Auf dem Viktualienmarkt besorgte ich die Zutaten für die geplante Hauptmahlzeit des Tages: den unsichtbaren Salat von katha. Allerdings seit dem ersten Versuch minus Avocado, weil die sich nicht nur unsichtbar, sondern auch unschmeckbar macht.
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Daheim erwartete mich die Erlösung: Der Krankheitszauber hatte gewirkt, diesmal an meinem Bruder selbst. Keine fünfköpfige-inklusive-Kinder Übernachtung. Zu coolen Turnschuhen wurden diese erklärt und bestellt.
Mit leichtem Herzen füllte ich den Nachmittag mit Lesen, weiteren Einkäufen in der Umgebung, alten Friends-Folgen, der Zubereitung des unsichtbaren Salats.
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Den Abend verbrachte ich in den Kammerspielen: Hermannsschlacht. Hmja. Vor dem Theater hatte ein Herr mit einem handgeschriebenen Plakat gestanden, auf dem ich im Vorbeihasten (ich war knapp dran) nur „Liebe Bildungsbürger“ entziffern konnte und „Ich protestiere gegen die Darstellung“. Wäre sicher eine genauere Lektüre wert gewesen, allein wegen der Seltenheit, mit der sich heutzutage jemand durch eine Theaterinszenierung so richtig angegriffen fühlt.
Ich verbrachte interessante zwei Stunden (nein, keine Pause), in denen mir die Sache mit der Schlacht im Teutoburger Wald als eine weitere politische Manipulation nach bekanntem Muster gezeigt wurde. Grundidee nicht schlecht, Schauspieler wie immer durch die Bank sehenswert (wieso war mir Schnuffi Edmund Telgenkämper neu?), Musik auf der Bühne hervorragend (Modern String Quartett) Bühnenbild aus riesigen Schaumstoffquadern unterhaltsam. Ich hätte nicht unbedingt so viel Baumwollunterwäsche gebraucht.
7 Kommentare zu „Ein Weihnachtsurlaubstag“
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30. Dezember 2010 um 10:21
vorsätzlich unsichtbar quasi. aber die (reifen hass-)avocados sind nicht nur für wohlgeschmack, sondern auch für textur zuständig, sonst ist ja nix weiches, cremiges drin. den salat habe ich übrigens fürs wochenende eingeplant. scheint die zeit dafür zu sein.
ps: hätte ich eine schwester, würde ich mir auch eine wünschen, die mir coole kataloge zur turnschuhauswahl macht. klasse.
30. Dezember 2010 um 10:44
Liebe Kaltmamsell,
ich vermute 2 größere und drei kleinere liebevoll handgenähte Voodoopüppchen im hinteren Geheimfach Ihres antiken Kleiderschrankes. Habe ich recht?
Im Ernst, ich wäre augenblicklich schweißgebadet ob solcher Ankündigungen. Mir hätte schon das Bummelnmüssen ausreichend Puls gemacht. Aber 5 Luftmitbenutzer in meiner Wohnung…über Nacht…oh nein.
Mitgezittert habend,
FrauZiefle
30. Dezember 2010 um 12:45
Oh! Den Turnschuh Katalog würde ich ja gerne sehen. Okay, ich kann ihn mir auch vorstellen. Auf jeden Fall Turnschuhe, die man als cool durchgehen lassen kann! Schönen Gruß an den Trommler aus der großen bösen Stadt!
30. Dezember 2010 um 13:03
Ein echter kleiner Bruder! Aber sind das nicht Damenschuhe?
30. Dezember 2010 um 15:30
Von allen Texturen, katha, die ich mir in einem Salat wünsche, steht “cremig” ehrlich gesagt ganz, ganz am Ende. Aber ich sehe den Punkt durchaus.
Aktiv beitragen, FrauZiefle, würde ich an der Erkrankung der Bruderfamilie niemals wollen. Deswegen kein Vodoo, sondern nur Hoffen (mit angemessen schlechtem Gewissen).
Ich werde den Trommler grüßen, Gaga – und im besten Fall ein Foto von ihm samt Turnschuhen anfertigen.
Nein, HERR Sebastian, das sind keine Damenschuhe, sondern männlich-sozialistische Sporttreter. Ich zitiere aus der Firmengeschichte: “1962 spielt die Nationalmannschaft der damaligen Sowjetunion in Chile ebenfalls mit Sportschuhen der Marke ‘Zeha’.”
30. Dezember 2010 um 16:02
Prima Schuhauswahl. Und DDR ist saucool und nichts für Schülerfüße.(…. hab das ja so einschlägige Erfahrung)
Der Krankheitszauber ist Voodoo-Übungklasse eins. Sie sind recht fortgeschritten.
30. Dezember 2010 um 16:54
So einen herrlich cremigen Salat, versuchen möchte ich ihn schon mal! Und zum Dessert eine knackige Quarkspeise!