Archiv für Januar 2011

Von Geschichten und alkoholischen Getränke und einem außergewöhnlichen Gin

Mittwoch, 19. Januar 2011

Gimlet trinken wir ja alle wegen Raymond Chandler. In The Long Goodbye steht das Rezept für die Mischung: „A real gimlet is half gin and half Roses lime juice and nothing else.“ Es war das bisherige Highlight meiner Bargeschichte, als ich in einer Augsburger Cocktailbar (einem mexikanischen Restaurant angeschlossen) um einen Gimlet bat und der mir völlig unbekannte Bartender fragte: „Philip Marlowe oder mit Wodka?“ Ich wich den ganzen Abend nicht von seiner Theke und ließ mir Cocktails seiner Wahl vorsetzen.

Wir könnten Gimlet auch wegen Hemingway trinken, doch die Situation, in der der Cocktail in „The short and happy life of Francis Macomber“ auftaucht, ist eine angespannte, deswegen erinnern wir uns nicht so gerne daran.

White Russian kannte ich durchaus schon vor The Big Lebowski, doch seither mag ich ihn nicht mehr anderes trinken als dort vorgeführt: Ordentlich Eis in ein Glas, das einem Zahnputzbecher so weit wie möglich gleicht, ein Finger breit Kahlua drauf, zwei Finger breit Wodka (entsprechend der Fingerbreite des Trinkers), mit Milch auffüllen.

Auf der zweiten Seite von Graham Greenes Our Man in Havana, das ich für ein Seminar an der Uni las, stolperte ich über: „Wormold cooled his mouth with his morning daiquiri.“ Was mir als Morgenmensch sofort einleuchtete. Gleich am nächsten freien Tag holte ich mir morgens auf dem Markt Limetten und testete diesen Morning Daiquiri – besser als jedes Glaserl Prosecco.

Als ich im Roman Die Seekarte von Arturo Perez-Reverte auf einen Gin namens Bombay Sapphire stieß, war ich sofort neugierig, probierte ihn und habe seither eigentlich immer eine Flasche davon in meiner Bar.

Doch nachdem ich den Münchner Gin The Duke probiert habe, fürchte ich, die blaue Flasche Bombay Sapphire wird künftig in erster Linie aus Dekorationsgründen und zur Zubereitung von Gimlets in unserer Bar stehen: Der Münchner Gin schmeckt so großartig, wie ich nicht geahnt hatte, dass Gin überhaupt schmecken kann.

Whiskygläser scheinen mir gut geeignet, aromatischen Schnaps zu genießen. Wacholder rieche ich heraus, klar, aber auch andere Gewürze und Kräuter – vielleicht Pfeffer und Lavendel? Und dieser minutenlange Nachhall von Zitrone und Orange… Nach meiner Erwähnung in der Geschichte übers Münchner Stadtmuseum hat mich einer der Gineure angeschrieben und gefragt, ob ich mir nicht mal die Destillerie ansehen möchte. Ein sehr verlockendes Angebot.

Der traurige Narzisst

Montag, 17. Januar 2011

Malte Weldings Frauen und Männer passen nicht zusammen – auch nicht in der Mitte habe ich mit Vergnügen gelesen. Wer seine Blogpostings und Zeitungsartikel mag, wird auch an diesem Buch eine Freude haben. Hier ein paar zusammengebaute Auszüge.

Zwar bin ich über die eine oder andere Prämisse zu Paarbeziehungen gestolpert, die ich nicht nachvollziehen kann. Zum Beispiel behauptet Malte Welding, seinem Partner gegenüber sei man nicht so geduldig wie entfernteren Bekannten, schimpfe ihn unter anderem schneller und gemeiner bei Missgeschicken. Geht es mir als einziger anders? Ich kenne zwar Paare, die nur darauf lauern, einander spüren zu lassen, dass sie in ihren Augen nichts taugen. Doch das hielt ich eigentlich für die Ausnahme. Auch widerspreche ich vehement der Ansicht, Partner sollten für eine belastbare Beziehung ein möglichst ähnliches Temperament haben: Mit jemandem, der mein Temperament hat, hielte ich es nicht mal eine Urlaubswoche lang aus. (Allerdings mag das Kriterium bei Menschen, die sich selbst gut ertragen, funktionieren.)
Ähnliche Werte und Lebensziele hingegen halte auch ich für eine gute Beziehungsbasis.

Ein Gedanke ist mir besonders aufgefallen, weil er aus einer für mich neuen Perspektive kommt. (Fehler in der Paraphrasierung aus dem Gedächtnis bitte alle mir anlasten, nicht Herrn Welding.) Welding belegt ausführlich, dass unsere Gesellschaft eine narzisstische ist. Zu einer überraschenden Beobachtung bringt ihn das im Kapitel „Der Feind in meinem Bett“, in dem er auf den Umstand eingeht, dass Sex mit anderen Menschen an Attraktion verliert, wenn man den eigenen Körper für abstoßend hält. Ohne das groß auszuführen, widerspricht Welding der Forderung, Fotomodelle in Zeitschriften müssten öfter dem Durchschnittsaussehen der Leserinnen entsprechen: Jede Kultur zu jeder Zeit hatte Schönheitsideale, die sehr weit vom Durchschnittsaussehen entfernt waren. Doch bis vor kurzem mussten dem nur bestimmte Berufsgruppen entsprechen, die dieses Aussehen genauso brauchten wie ein Profi-Klavierspieler zwei Hände. Diese Menschen wurden bewundert, auch begehrt. Erst in unserer narzisstischen Gesellschaft bildet sich plötzlich die breite Masse ein, diese Anforderungen gälten auch für sie. Dass nicht nur Fotomodelle und Hollywoodschauspieler einem übermenschlichen Ideal entsprechen müssen, sondern auch sie selbst. Und erst dadurch fühlen wir uns schlecht und eklig, wenn wir es nicht tun.

Weiter führt Malte Welding den Gedanken nicht aus, ist ja auch nicht sein eigentliches Thema. Über den Narzissmus unserer Gesellschaft hinaus sehe ich nämlich zwei Einflüsse, ohne die der destruktive Körperkult nicht funktionieren würde: Machbarkeit und Marketing. Der Glaube an die Machbarkeit praktisch jeder körperlicher Veränderung wird umgedeutet in die Verpflichtung zur Veränderung, zwingend schlüssig dargelegt unter anderem von Susie Orbach. Und da sich mit Ekel vorm eigenen Körper sehr viel Geld machen lässt, befeuert das Markting unserer Zeit den verursachenden Narzissmus, wo es geht: AUCH DU KANNST SO AUSSEHEN!

Vielleicht ist es ja doch in Ordnung, wenn Märchenzeitschriften wie die Vogue nur Märchengeschöpfe zeigen.

Ein Freitagabend im Januar

Samstag, 15. Januar 2011

Wir hatten beide eine arbeitsreiche Woche hinter uns, der Mitbewohner und ich. Zum idealen Freitagabend trafen wir uns im Broeding, bei vorzüglichem Essen mit begleitenden Weinen. Als Aperitiv ein Gläschen trockenen Muskateller zum Gruß aus der Küche: Hack aus Artischocken, Auberginen, getrockneten Tomaten mit einer Mini-Mozarella.

zu Zander-Lachs-Wan Tan mit Cedratfrucht und Salat. Man hatte uns angekündigt, dass die seltene Cuvee aus Grünem Veltliner, Chardonnay und Riesling sehr gut zum Zitrusgeschmack passen würde – es stimmte. Zudem ein sehr ungewöhnlicher, interessanter Wein.

zur Topinambursuppe mit schwarzen Walnüssen. Wir fanden, die Süße der Auslese harmonierte mit den schwarzen Walnüssen fast noch besser als mit dem Topinambur, doch insgesamt war das der am wenigsten aufregende Wein des Abends.

zum Skrei-Kabeljau mit Chicorée und Krustentiersauce. Ein ungewöhnlicher Chardonnay mit viel Wiese und Grapefruit, gut vor allem mit dem Chicoree.

und

zur Lammkeule mit Kürbis-Kartoffel-Gratin, beides Blaufränkische, zum Vergleich. Ich war gespannt gewesen, weil ich für Blaufränkisch eigentlich nicht viel übrig habe. Der Wenzel Bandkräften wurde uns als markanter angekündigt und gefiel mir ganz ausgesprochen gut. Der Pfneisl war gefälliger – auch nicht schlecht, konnte mich aber nicht vom aufregenden Wenzel ablenken. Der zudem schön zum dem unerwähnten Weißkraut auf dem Teller passte, das mit Schwarzkümmel und Kurkuma abgeschmeckt war.

Zum Epoisses mit Thymiangelée gab es ein Gläschen Quittenwein, ausnahmsweise nicht aus Österreich, sondern aus Unterfranken. Und auch im Broeding hat man jetzt das löbliche Pre-Dessert: Es bestand aus einem Löffelchen Birnen-Topfen-Mousse mit einem Hauch Zimt.

als Dessertwein zum Apfelschlupfer und Quitten. Ich ließ ihn aus Migräneangst weg, doch der Mitbewohner, ohnehin ein Süßweinliebhaber, war sehr zufrieden.

Schissers Digest

Freitag, 14. Januar 2011

Als ich ein Kind war, ertrug ich spannende Stellen in Filmen nicht, gruslige schon gleich gar nicht. Ich durfte Raumschiff Enterprise sehen (mir ist bis heute unklar, warum meine Eltern mir ausgerechnet diese Serie erlaubten, wo sie doch ansonsten mein Fernsehen streng auf zwei bis drei Kindersendungen pro Woche beschränkten). Doch immer wenn sich etwas Fürchterliches anbahnte, die Musik klar signalisierte, dass gleich etwas passieren würde – rannte ich aus dem Wohnzimmer und blinzelte vorsichtig vom Flur aus um die Türecke auf den Bildschirm.

Als ich älter wurde, reagierte ich genauso auf diese Art Spannung und auf Grusliges in anderen Filmen und Serien, nur dass ich das Wohnzimmer nicht mehr rennend verließ, sondern unter einem Vorwand (Klo, Durst etc.) scheinbar ruhig aufstand und ging.

Das Dumme: Das blieb mir, und heute, mit mittlerweile 43 Jahren, reagiere ich noch exakt genauso. Für gruslige Filme ging ich irgendwann einfach nicht mehr ins Kino, da ich ohnehin zwei Drittel der Zeit geduckt hinter dem Sitz des Vordermannes oder – deutlich unauffälliger – mit geschlossenen Augen verbringen würde.

So richtig in die Bredouille brachte mich das erstmals, als Silence of the Lambs 1991 ins Kino kam. Ich hatte viel über den Film in Fachzeitschriften gelesen und war sicher, dass er sensationell sein würde. Gleichzeitig wusste ich aber, dass ich mich schrecklich fürchten würde. Ich löste das Dilemma, indem ich mich von einem Freund begleiten ließ, der den Film bereits gesehen hatte, mehrfach, und mich rechtzeitig vor den grusligsten Szenen warnte, so dass ich möglichst selten die Augen schließen musste.

Auch in Pulp Ficiton wäre ich trotz sehr großen Interesses fast nicht gegangen. Es dauerte fast eine Stunde Film, bis es bis zu meiner Angst durchsickerte, dass ich da gerade eine Komödie sah, nichts Grusliges. Und ich entspannen konnte. (Kill Bill und Inglorious Basterds brachte ich allerdings nicht fertig.)

Und jetzt kommt Black Swan, nach Langem mal wieder ein Film, für den ich mich schon weit vor Start interessierte: 1. Tanz, 2. Ballett, 3. Natalie Portman. Die ersten Bilder sahen auch gar zu hinreißend aus. Doch die Trailer machten mir schnell klar, dass es sich um einen ausgesprochen grusligen Film im oben beschriebenen Sinn handelt. Da ist sie wieder, die Bredouille.

Wissen Sie, was also fehlt? Ich bräuchte eine Version, in der die grusligsten Szenen ausgeblendet sind, Ton darf von mir aus drin bleiben. Praktisch ein Schissers Digest. Sollten die ausgeblendeten Szenen Informationen enthalten, die für den Fortgang der Handlung wichtig sind, können sie ja als Untertitel geliefert werden. Dass solch eine Version nicht gleich beim Start eines Films vorliegt, akzeptiere ich gerne. Doch auf DVD gibt es doch sonst auch alle möglichen Versionen, in Dutzenden Synchronfassungen, mit Kommentaren von Mitwirkenden etc. etc. Warum nicht auch die Schisser-Version?

Mithelfen beim Atlas zur deutschen Alltagssprache

Dienstag, 11. Januar 2011

Selbst habe ich an der Uni Augsburg zwar nicht Germanistik studiert, doch über befreundete Germanistikstudentinnen und -studenten bekam ich einiges aus dem Fach mit (wir schrieben die erste Häfte der Neunzigerjahre). Dazu gehörten nicht nur Gruselgeschichten aus der Literaturwissenschaft: Mann-Experte Koopmann war berüchtigt dafür, in mündlichen Prüfungen alles außer abgesprochene Themen abzufragen („dass Sie das wissen, kann ich mir ja vorstellen“) und sich nach der Einbandfarbe bestimmter Gesamtausgaben zu erkundigen („wenn Sie die in der Hand gehabt hätten, wüssten Sie das“). Als Hiwi an einem anderen Lehrstuhl hatte ich ihn hin und wieder am Telefon; das trompetete „KOOP!mann“, mit dem er sich meldete, klang mir immer in den Ohren, wenn ich den Herrn Professor mal wieder als Gast des Literarischen Quartetts im Fernsehen sah.

Häufiger und detailierter erzählte mir eine Studienfreundin aber aus der Deutschen Sprachwissenschaft und dem Hauptprojekt des damaligen Lehrstuhlinhabers Werner König: dem Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben. In seinen Seminaren schickte er die Studenten und Studentinnen hinaus auf die Dörfer: Dort interviewten sie alte Leute mit Aufnahmegerät, um möglicherweise aussterbende Dialektausdrücke festzuhalten. Alle Beteiligten schienen einen Heidenspaß zu haben.
Mittlerweile sind alle 14 (!) Bände erschienen.

Ein aktuelles Projekt des Lehrstuhls für Deutsche Sprachwissenschaft an der Uni Augsburg ist der Atlas zur deutschen Alltagssprache, der die Vielfalt des heutigen Deutschen erfassen soll. Erhoben wird diesmal aber nicht mit Aufnahmegerät, sondern per Internetumfrage. (Ist das Ergebnis dann nicht ein Atlas der Alltagssprache deutscher Internetnutzer? Egal.)

Da ich den begründeten Verdacht habe, dass sich ziemlich viele Sprachnerds unter den Lesern und Leserinnen der Vorspeisenplatte befinden, interessiert vielleicht eine Teilnahme an dieser Erhebung? Vielleicht mag sich auch jemand mit Papa und Mama, Oma und Opa vor den Rechner setzen? Hier geht es zur aktuellen achten Runde.

Ergebnis ist dann zum Beispiel diese Darstellung, wie man wo zu einem gebratenen Fleischkloß sagt.

via croco

Sonntägliches Clackity

Sonntag, 9. Januar 2011

Nicht dass ich mich mit Herrn Foer vergleichen möchte, aber seine Beobachtung erinnerte mich an das System clackity noise, und deshalb versuche ich das mal wieder. Angefangen habe ich eine Geschichte über den sensationellen Geschmack des Duke-Gins und wie sehr Fiktion sich auf meine Cocktail-Vorlieben auswirkt, aber die mag ich jetzt nicht fertigschreiben, weil ich erst mal die korrekten Buch- und Filmtitel recherchieren müsste (nicht dass Sie glauben, sowas schriebe ich hier immer aus dem Gedächtnis hin). Und dann habe ich heute Mittag Katherine Anne Porters dickes Ship of Fools ausgelesen und einen Text darüber angefangen, muss aber erst mal meine Gedanken sortieren, ein bisschen Hintergrund recherchieren sowie herausfinden, ob und wie ich eine Brücke zu Manns Zauberberg und Feuchtwangers Erfolg schlagen will.

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Warm ist es draußen geworden, zu meiner großen Erleichterung – ich kann das Haus in anderen als in Schneeschuhen verlassen. Trotzdem und trotz des hellen Morgens ging ich nicht zum Isarlaufen, sondern zum Turnen. Die Crosstrainer stehen im Studio am Ostbahnhof vorübergehend im obersten Stockwerk (dem achten?) an den Panoramafenstern, und so strampelte ich ein knappes Stündchen mit Blick auf die föhnklare Alpenkette und dünstete ein wenig Chlor vom gestrigen Schwimmen aus (im Olympiabad ist die Vorsatzsportlerwelle definitiv angekommen). Danach eine gute Stunde Stepsteigen und Kraftübungen.

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Meine ehrwürdige Ritschratsch (Nikon Cool Pix S2, Baujahr 2005) ist kaputt: Display schwarz, Bilder schwarz, vergangenes Wochenende von heute auf morgen. Das ist blöd, aber eigentlich ging mir schon immer der Auslöser zu schwer. Nun muss ich mich nach einer neuen, ganz kleinen macht-alles-selbst-Kamera umsehen. Eine Kollegin hatte mir sofort ihre winzige Panasonic Lumix empfohlen (was kann falsch sein an einer Kamera, deren Name klingt wie eine Figur aus Asterix?) und sie mir übers Wochenende zum Ausprobieren mitgegeben. Brav las ich mich heute durch Dutzende Testberichte der aktuellen Modelle. Die DMC-FX66 könnte passen, zumal die FS16 erst in zwei Monaten auf den Markt kommt. Kaufen würde ich allerdings am liebsten in einem kleinen, am Hungertuch nagenden Fotoladen, zumal die Kundenberatung im großen, großen Foto Sauter keinen guten Ruf hat. Auch den gilt es jetzt erst mal zu finden.

(A very, very tiny little story.)

München tiefgestapelt

Freitag, 7. Januar 2011

Gemälde aus dem Mittelalter, Originale von alten Brunnenfiguren, Holzmodelle, Dioramen städtischer Wohnzimmer, Urkunden, repräsentative Kunstwerke aus mehreren Jahrhunderten – die ständige Ausstellung „Typisch München“ im Münchner Stadtmuseum (mein Umzug nach München jährt sich gerade zum 12. Mal – es wurde wirklich Zeit für einen Besuch) ist auf den ersten Blick, wie man sich eine stadthistorische Aussstellung halt erwartet.

Das Besondere ist der Tonfall der erklärenden Beschriftungen: Ich habe noch nie solch konsequentes Tiefgestapel in der Selbstdarstellung einer Stadt gelesen. Schon die meisten Gründungsmythen, die ich kannte, werden als Geschichtserfindung im Zuge des Nationalismus im 19. Jahrhundert entlarvt, freundlich und präzise. Heimatkundemuseen zeichnen sich doch sonst eher durch die Sammlung von Superlativen aus: Das weltweit erste Dings, Deutschlands größtes Trallala, der bedeutenste Hmpf seiner Zeit.

Mit der Gründung ihres Stadtmuseums im Jahr 1888 begaben sich die Münchner auf die Suche nach einer eigenen Vergangenheit. Es kam zu Konstruktionen, für die das moderne Wort der „erfundenen Traditionen“ gilt. Sie erweisen sich als Wunschvorstellungen, die für die Identität einer Stadt verbindlich werden können. Gezeigt werden diejenigen „Münchner Altertümer“, die sich aus der retrospektiven Sicht des 19. Jahrhunderts für das neue Verständnis einer standesstolzen Bürgerstadt vereinnahmen ließen.

Ebenso als Wunschvorstellung stellten sich die meisten Anekdoten heraus, die ich von Kindesohren an über Münchner Wahrzeichen und Brauchtum gelernt habe. Nein, der Schäfflertanz geht mitnichten auf eine überstandene Pestepidemie zurück. Große Bereiche des Museums könnten die Überschrift tragen: „Wie aus Brauchtum Folklore wurde.“

Mehr Tiefgestapel: Sehr deutlich machen Exponate und Erklärungen, dass Münchens Geschichte nicht besonders weit zurück reicht, dass Vororte wie Pasing, Allach oder auch Sendling erheblich stolzer auf ihr Alter sein können. Zahlreiche Beispiele belegen zudem, dass München architektonisch und kunsthandwerklich meist hinter vergleichbaren Orten herhinkte. Zu zwei Porträts aus dem 17. Jahrhundert heißt es explizit, die Dargestellten seien zu einem „wenig begabten Maler“ gegangen. Und wenn eine Figur oder Malerei bemerkenswert war, hatte sie ohnehin ein zugewanderter oder durchreisender Künstler geschaffen.

Die Strukturierung der Geschichte Münchens (Altes München, Neues München, Stadt München) brachte mich auf Erklärungen, wieso München heute so ist, wie es ist. Da wäre zum Beispiel die fast ausschließliche Prägung durch das Kurfürstentum und den Hofstaat bis zum Ende der Monarchie – im Gegensatz zur Prägung durch Zünfte, Hanse oder ein immer stärker werdendes Bürgertum in anderen großen deutschen Städten.

Massive Fehler in der Stadtplanung werden ebenso herausgestellt wie fragwürdige Setzung von Prioritäten. Natürlich erzählt die Ausstellung auch die Geschichte des Gebäudes, in dem das Stadtmuseum beheimatet ist: Es war einst das Münchner Zeughaus, die dort gelagerten Waffen sollten die Wehrhaftigkeit der Stadt sichern. Prompt wurde es zur Revolution 1848 gestürmt. Doch die Revoluzzer stellten fest, dass der Inhalt unbrauchbar für ihre Sache war, weil völlig veraltet.

Zur gründlichen Vermeidung jeglicher Selbstbeweihräucherung sind viele Inhalte des Museums mit Kommentaren berühmter Zeitgenossen illustriert – durchgehend vernichtend.

Sehr beachtlich fand ich die Teilausstellung „Kasperl im Klassenkampf. Eine Revue“, die anhand von Elementen aus Lion Feuchtwangers Roman Erfolg München von etwa 1900 bis zum Nationalsozialismus zeigt. Diese künstlerische Blütezeit stellen die Kuratoren fast ohne Tiefstapelei dar, nennen lediglich sachlich die Herkunftsorte ihrer Protagonisten: Sie liegen nahezu ausschließlich weit weg von München. Zum Thema Jugendstil (nu ja, zumindest das Wort geht auf eine in München erschienene Zeitschrift zurück) gibt es eine ganze Reihe beeindruckender Exponate.

Eine eigene Abteilung bekommen „Viktualien“. Doch nicht mal die Münchner Kulinarik kommt historisch gut weg. Zwar weist eine Tafel darauf hin, dass in den 80ern die deutsche Küche von München aus revolutioniert worden sei, macht das aber korrekt an der Einzelperson des Österreichers Witzigmann fest.

Sollte ich mal wieder ein Beispiel dafür brauchen, dass es auch in Deutschland virtuoses Understatement gibt: Ich würde das Münchner Stadtmuseum nehmen.

Dringend zum Museumsbesuch gehört der Museumsladen: Er besteht zur Hälfte aus einem echten Antiquitätenhandel in einem sehr nach Auer Dult aussehenden Stand. UND es gibt im Museumsladem den Münchner Gin Duke zu kaufen, der in der Barer Straße gebrannt wird (Näheres nach Verkostung.)