Mein 1986 – Teil 2
Dienstag, 22. Februar 2011 um 6:20Chortournee Andalusien
Der Jugenchor, in dem ich sang, fuhr im Bus nach Andalusien (1986 wären Flüge viel zu teuer gewesen). Mein Plan: mit einer langjährigen Freundin und Mitabiturientin, die ebenfalls im Chor sang, nicht mit dem Chor zurückfahren, sondern mit einem Interrail-Ticket vier weitere Wochen in Spanien verbringen.
Zwischenstopp auf der Hinfahrt war Tarragona (ich erinnere mich an salziges Wasser in der Hoteldusche), wo wir das Amphitheater besangen.
Schwierige Zimmerverteilung am Zielort Granada. Mein Konflikt: Meine beste Freundin ging natürlich davon aus, dass ich zusammen mit ihr ein Zimmer beziehen würde. Ich hatte den Eindruck, dass sie auf die künftige Reisegefährtin eifersüchtig war und ich ein wenig um sie werben musste. Aber eigentlich hätte ich lieber mit meinem Freund ein Zimmer bezogen, dem Organisator der Tournee. Oder auch nicht, ich war verunsichert und befangen – zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie eine Nacht mit ihm verbracht. Auch im Nachhinein kann ich mich nicht lustig machen über die innere Qual dieser 18-Jährigen. Die vielleicht viel über Stochastik und Tangenten, über die streikenden Minenarbeiter in Wales und über Thukydides gelernt hatte, aber ganz sicher nicht, sich über eigene Wünsche und Sehnsüchte klar zu werden oder gar darüber zu sprechen.
Ich habe die Tage in Granada tumultös in Erinnerung. Zwar war ich mit der besten Freundin ins Hotelzimmer gezogen, doch es war heiß, die empfindlichen Sopräner vertrugen das fremdartige Essen nicht, ich hatte mich zu naiv darauf gefreut, dass der Organisator mir sein Granada zeigen würde, begriff zwar, dass er dafür eben als Organisator keine Zeit hatte, fühlte mich trotzdem verletzt und schimpfte mich deshalb kindisch und bescheuert.
Zwischen der besten Freundin und mir krachte es auch noch, als ich ihr gestand, dass ich im nächsten Tourneeort das Zimmer mit meinem Freund teilen wollte. Wobei sie sich nicht etwa darüber echauffierte, dass ich das wollte, sonders dass ich ihr gestand, wie schwer es mir fiel, ihr das zu sagen. Wie ich dazu käme, ihr zu unterstellen, sie könne etwas dagegen haben!
Die designierte Reisebegleiterin schien sich auf einmal nicht mehr für mich zu interessieren und widmete sich ausschließlich anderen Chorsängerinnen und Chorsängern. Dazwischen mein geplagter Freund, der Konzerte, Unterbringung, Ausflüge zu organisieren hatte, ständig als Dolmetscher und Reiseleiter gebraucht wurde.
Mit dieser Situation käme ich heute keinen Deut besser zurecht als damals.
Spanienreise
An die anschließenden Wochen in Spanien mit meiner Reisebegleiterin wiederum habe ich sehr angenehme Erinnerungen. Wir harmonierten überraschend gut, die Distanz der Zeit davor war wohl Zufall gewesen. Auf einen Tipp meines Freundes hin begannen wir unsere Abiturreise, denn als solche war sie deklariert, am Meer in Nerja. Wir trafen auf spannende Menschen aus aller Welt, zwei Studentinen aus USA machten uns mit ihrem Reiseführer Let’s go bekannt, aus dem wir uns Übernachtungstipps für unsere nächste Station Sevilla abschrieben.
In Sevilla lernten wir per Zufall einen jungen Gitarristen kennen, der aus unserer Heimatstadt dorthin ausgewandert war. Er nahm uns unter die Fittiche, zeigte uns die Stadt, ihre Speisen (Flamenquínes!) und Getränke.
In Madrid kamen wir ein paar Tage bei meinem Onkel unter, sahen uns die heiße Stadt an, auch eine Monet-Ausstellung, die alle Seerosen-Bilder vereinte (möglicherweise der Anfang meiner Ermüdung mit Impressionismus), ließen uns von meinen Verwandten durchfüttern. Dann ging es raus aufs Dorf zu meinen Kindheits- und Jugendurlaubsfreunden. Ich drückte meine Freundin dem rothaarigsten aller Spanier in die Hand, einem ungewöhnlich freundlichen und behutsamen jungen Mann, mit dem ich mich schon immer am besten verstanden hatte (und der einen sagenhaften Ruf bei den Damen genoss). Wir verbrachten die Abende und Nächte feiernd, tagsüber zeigte ich ihr mein Schulferienspanien – mal in Begleitung meines etwa gleichaltrigen Lieblingskusins und des rothaarigen Freundes, mal lieh uns mein Kusin sein Auto für eigene Erkundungen (fahren ließ ich lieber die Begleiterin, obwohl wir beide einen Führerschein besaßen – das mit dem Autofahren fand ich wohl nie so richtig attraktiv). An Schlaf kann ich mich nicht erinnern, vielleicht hielten wir hin und wieder Siesta.
Die letzten Tage in Spanien hatten wir für Barcelona eingeplant, wohin wir per Zug mit unserem Interrail-Ticket fuhren. Wir suchten uns eine billige Pension in Bahnhofsnähe – und schliefen drei Tage praktisch durch: Die vorherigen Wochen mit Minimalschlaf hatten uns eingeholt. Deshalb kenne ich von Barcelona bis heute nur die kleine Plaza beim Hotel, an der es einen Supermarkt gab sowie ein schraddliges Lokal mit billigen platos combinados und die eine oder andere Nebengasse. In einer davon entdeckten wir diesen Spiegel.
Ferienjob in der Fabrik
Der Sommer war so voll, dass ich die Ereignisse nicht mehr in eine Reihenfolge bringe.
Da war die offizielle Abiturfeier (den Rock, den ich dabei trug, besitze ich noch heute), auf der ich mich bereits eine Ewigkeit von der Schule entfernt fühlte. In diesen Sommer fiel auch der Auftritt mit meinem Chor im Münchner Cuvillies-Theater. Den Anlass und das Programm habe ich vergessen, ich bin mir nur ziemlich sicher, dass es ein Sonntagnachmittag war.
Selbstverständlich nutzte ich die Zeit zwischen Schule und Berufsanfang zum Geldverdienen: Für das Volontariat bei der Zeitung ab September würde ich ein Auto brauchen, das finanziert werden musste, außerdem wollte ich von daheim ausziehen – auch das brauchte Geld. Von selbst verstand sich im Grunde auch, bei welchem Arbeitgeber ich dieses Geld verdienen würde: Mit einer ganzen Hand voll Mitabiturientinnen heuerte ich bei der mit Abstand größten Fabrik am Ort an. Das gehörte in meiner Heimatstadt so rituell zum Abitur, dass es dort sogar einen klassischen Posten für Frischabiturierte gab: die fabrikinternen Kioske.
Wir wurden zunächst als Handlangerinnen auf die fest angestellten Frauen verteilt, die diese Kioske führten, zählten Würstel ab (ich lernte, Wienerlpaare durch Reißen zu trennen, Weißwürste im Gegensatz dazu mit der Schere), schleppten Bierkästen, machten Bekanntschaft mit offiziellen Warenbezeichnungen („Geleefisch“ für einzeln abgepackte Rollmöpse in Aspik) und mit inoffiziellen („Super“ für Exportbier, „Bleifrei“ für alkoholfreies – oh ja, in bayerischen Fabriken wurde damals Bier getrunken, sogar erschreckend viel), konnten bald acht Bierflaschen gleichzeitig tragen, indem wir die Hälse zwischen die Finger steckten, und mit täglichen Bestellungen und Abrechnungen war sogar ein Hauch Buchhaltung dabei. Nach der Einarbeitungszeit führte ich allein einen Kiosk im ältesten Teil des Werksgeländes (der vordere Gebäudeteil bei Ziffer 12).
Ein paar Details sind mir besonders in Erinnerung geblieben:
– Wie ich einmal vergaß, den Wurstkessel runterzuregeln und mir alle Würscht platzten (Fachausdruck: „Wurstsuppe“).
– Wie die zarte, junge Frau, in deren Kiosk ich lernte, mich um mein physisches Format beneidete („Du stellst wenigstens was dar!“).
– Dass alle Kolleginnen ungeheuer nett und geduldig mit uns Abiturientinnen waren.
– Wie mir eine Studentin, die gerade in einer der angrenzenden Produktionshallen jobbte und die ich eben erst kennengelernt hatte (nämlich als Kundin an meinem Kiosk), zu meinem Geburtstag im August ein Blümchen vorbeibrachte.
15 Kommentare zu „Mein 1986 – Teil 2“
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22. Februar 2011 um 8:44
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Made my day
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22. Februar 2011 um 9:37
„Du stellst wenigstens was dar!“
Toller Satz. Könnten Sie den nicht zum Motto Ihres
BlogsLebens machen?Ansonsten habe ich selten einen Bericht lieber gelesen als diese Erinnerung mit den Bildern. Liegt vielleicht daran, dass sie meiner so ähnlich ist. Gibt’s eine Fortsetzung?
22. Februar 2011 um 9:40
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22. Februar 2011 um 9:46
Ich wünschte, Frau Klugscheisser, ich hätte diesen Satz nicht nur mit dem Hirn als treffend begriffen. Ja, es wird noch einen Teil 3 geben. (In dieses Jahr passten mindestens drei Lebensabschnitte.)
22. Februar 2011 um 10:05
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22. Februar 2011 um 10:35
Find ich irgendwie beruhigend, dass es uns mit 18 ähnlich ging.
(Ich kann mich auch an solche Details erinnern)
War wiedermal schön, das zu lesen – auch wenn es mich sehr sentimental gemacht hat.
22. Februar 2011 um 11:27
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22. Februar 2011 um 12:25
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22. Februar 2011 um 13:04
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22. Februar 2011 um 15:10
Welche Werke wurden denn auf der Chorreise gesungen?
22. Februar 2011 um 20:33
Das Spiegel-Bild ist sehr schön.
22. Februar 2011 um 21:02
Erinnern, Buchfink, kann ich mich nur noch an die Trois Chansons von Ravel – da ich kein Wort Französisch konnte, musste ich den Text Silbe für Silbe auswendig lernen. Hier zum Mitsingen:
Das Spiegel-Bild, Gaga, haben wir, wie mir jetzt wieder einfällt, wegen der Armbändel gemacht, die damals sehr angesagt waren und die wir uns gerade gekauft hatten.
24. Februar 2011 um 13:21
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24. Februar 2011 um 18:03
Danke für die “Trois Chansons”, ich hab sie mir angehört. Das sind anspruchsvolle a-cappella-Lieder, der Chor muss gut gewesen sein, wenn er das gestemmt hat. So viel “Text”, das erfordert ein flinke Sprache. Da ich selbst Chorsängerin bin, hat mich das interessiert.
21. März 2011 um 22:38
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