Mein Social Media-Dilemma

Montag, 21. Februar 2011 um 9:42

Eine gute Zusammenfassung der Lage von Social Media bei deutschen Unternehmen gibt talkabout – und macht mir mein ganz persönliches Dilemma bewusst.

Heute ist „richtige“ Social Media fast immer im Amateurstatus. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn sie wird von Menschen gemanaged, die mit Social Media aufgewachsen sind, die über Social Media ihre Freunde und Bekannte pflegen. Sie „lieben“ diesen Job. Und sie verstehen sehr viel von den Tools und Techniken im Social Web. Aber es fehlt ihnen oft an der professionellen Ausbildung in Sachen Kommunikation, BWL und Management.

„Social Media“ krankt heute etwas daran, dass die Verantwortlichen, die etwas von betrieblicher Wertschöpfung verstehen, weit entfernt vom Social Web sind. Und die „Digital Residents“, also die Leute, die „im Netz leben“, sind überwiegend ebenso weit entfernt von den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten. Grenzgänger sind selten. Es ist eben noch eine sehr junge Disziplin. 2011 kann das Jahr werden, in dem sich die beiden Parteien annähern. Und wie so oft bei einer Annäherung müssen beide Seiten sicherlich ein Stück ihre Position verlassen: Ja, menschliche Kommunikation sollte nicht von Regeln und Prozessen beherrscht werden. Aber ohne Regeln und Prozesse funktioniert die Welt in Unternehmen nicht. Denn es braucht in Unternehmen auch Zuverlässigkeit und Beständigkeit, und die sind nur schwer zu verwirklichen, wenn die Umsetzung von einzelnen Personen abhängt, und nicht reproduzierbar ist.

In meinem Unternehmen bin ich genau eine dieser Grenzgängerinnen (wenn auch nicht in dafür verantwortlicher Position) und verstehe von beiden Seiten viel. Nur dass sie einfach nicht zusammenpassen wollen. Ich befinde mich ziemlich deutlich auf der Seite derer, die ich als echte Internetnutzer sehe, nicht auf der Seite derer, die Ahoipolloi wunderbar mit diesem Cartoon aufspießt: „Deutsche Social-Media-Revolutionäre in Kairo eingetroffen“.

Das Zitat oben trifft meinen inneren Zwiespalt: Als Digital Resident
– lebe ich mit ständiger Internetverbindung, sie ist praktisch ein weiteres Sinnesorgan,
– verbinde ich digitale Medien mit Vergnügen, persönlicher Nähe, Austausch, Impulsen, Anregung,
– verfüge ich über perfekte banner blindness („Banner-Klicker“ kommt für mich als herablassende Einordnung gleich nach „Internet-Ausdrucker“),
– gehe ich verantwortungsvoll mit meinen Daten um,
– bekomme ich technische Entwicklungen früh und schnell mit,
– habe ich keinerlei Hemmungen, mich im Internet zu äußern,
– freue ich mich an Irrelevanz als großer Freiheit,
– darf ich auf Klickzahlen und Erfolgsrezepte pfeifen,
– kann ich mich von Idiotien über Sinnlosigkeit oder Gefährlichkeit des Mitmachwebs einfach ohne Reaktion abwenden,
– finde ich Suchmaschinenoptimierer eklig und unlauter, weil sie mich als Bloggerin mit Referrer-Spam, Scheinkommentaren und Linktausch-Anfragen belästigen.

Als berufliche Social-Media-Arbeiterin (als Teilaufgabe) aber
– soll ich digitale Medien in erster Linie unter dem Aspekt Effizienz betrachten,
– habe ich diesen Verdacht,
– scheue ich mich, in Person für mein Unternehmen sichtbar zu werden (weil ich mich nicht völlig damit identifizieren lassen möchte),
– muss ich im Unternehmen zu Äußerungen über das Web Stellung nehmen, die Unwissen oder irrationale Aversion verraten, vor allem, wenn sie von Entscheidern kommen,
– werden Prozesse und Strukturen erwartet, die meiner Überzeugung nach mit Social Media unvereinbar sind (Wertschöpfung, Freigaben),
– redigiere ich Banner-Texte,
– habe ich nicht nur erst letzte Woche gelernt, dass Suchmaschinenoptimierer ihr Fachgebiet SEO als Wort und nicht als Einzelbuchstaben aussprechen, sondern muss mich ernsthaft damit auseinandersetzen, was davon dem Unternehmen nützen könnte,
– muss ich mich mit Leuten („Beratern“) beschäftigen, die mir das kleine Social Media-Einmaleins vorrechnen wollen, ihr Internet-Wissen aber aus Büchern haben, persönliche Kontakte im Internet nur als „Networking“ kennen, alles und jeden online zwangsduzen und sich beim besten Willen nicht vorstellen können, dass jemand die zeitgenössischen Funktionalitäten des Internets aus purem Vergnügen nutzt.

Social Media Manager müssen anfangen, in betriebswirtschaftlichen Dimensionen zu denken.

(ebd.)

Genau da bin ich nicht so sicher (was war nochmal der ROI einer Pressemitteilung?). Vielleicht aber sperrt sich etwas in mir, Teil einer professionalisierten Social Media-Welt zu werden.

die Kaltmamsell

17 Kommentare zu „Mein Social Media-Dilemma“

  1. Nicky meint:

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    Gerne gelesen

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  2. rrho meint:

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    Genau!

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  3. Izyy meint:

    Ein schöner Text.

    Vielleicht gibts einfach kein richtig. Ich denke, dass Online-Aktivität am besten ankommt, wenn Charaktere identifiziert werden können. Warum sollte ich mir einen Werbe-Feed in die Timeline holen?

    Ich lasse mir jedenfalls äußerst ungern sagen, ich twittere “falsch”. Mein Account, meine Regeln.

    Obwohl… wenn ich nicht arbeitslos rumstudiere sieht das auch wieder anders aus. Wenn ich teilweise über die Arbeit twittere, ist der Rest auch disziplinierter… Mist.

    Es gibt kein richtig, dabei bleib ich.

  4. franziska meint:

    Ich find das übrigens ganz schlimm, dass die nicht SEO sagen, sondern Seo.

  5. Kiki meint:

    Danke, genau das faßt mein Dilemma perfekt zusammen. Ich liebe das Netz und bin seit über einem Vierteljahrhundert online aktiv. Und ich hasse es, daß Kunden und Arbeitgeber ganz selbstverständlich voraussetzen, daß sie nicht nur mein Wissen und meine Arbeitszeit gekauft haben, sondern ich natürlich auch meine „Internetkontakte“ dazu benutze, um ihre Produkte nach vorne zu bringen und „ein Grundrauschen“ (Beratersprech) auf ihre Websites und Social Web Accounts zu bringen, die sie natürlich, sobald die Aktion vorbei ist, wieder brachliegen lassen oder abmontieren wie ein Plakat an einem Bauzaun.
    Mein diesbezüglich geäußertes „Nein“ wird bestenfalls verächtlich mit „jetzt stell’ dich mal nicht so an, das sind ja nur Onlinefreunde, keine echten Freunde“ quittiert, oder entrüstet „stehst du etwa nicht hinter unserem Produkt/unserer Aktion?“ oder unverhüllt drohend „es gibt genügend Leute da draußen, die nicht solche kleinlichen Bedenken haben“.

    Hätte ich mal was anständiges gelernt, wie Bestatter oder so. #seufz

  6. Not quite like Beethoven meint:

    Ich frage mich, ob das eine Generationenfrage ist. Ob die 10 Jahre jüngeren das auch (noch) so sehen?

  7. Isabella meint:

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    Genau!

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  8. Nathalie meint:

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    Genau!

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  9. Helga meint:

    @Not quite like Beethoven – Ich denke, ich bin etwa 10 Jahre jünger und sehs genauso… Vielleicht die noch mal 5 bis 10 Jahre Jüngeren?

  10. Kittykoma meint:

    ******************KOMMENTAROMAT**********************

    Genau!

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  11. anie's delight meint:

    Schön zu lesen, dass es anderen genauso geht.

    Bei dem Kommentar von Kiki komme ich echt ins Grübeln. Wieviel soll man als Arbeitnehmer geben? Wenn man nicht über die virtuellen Kontakte verfügt, muß ich mich dann in meinen Sportclub oder sonstige Vereinigung stellen und einen Vortrag über die Produkte meines Arbeitgebers referieren, damit diese weiter gepusht werden?
    Reales Grundrauschen?

  12. Kiki meint:

    @ anie`s delight: Wie es in Jobs jenseits der Medien- und Werbebranche aussieht, kann ich nicht sagen. Aber wenn ich mir gefeierte Artikel wie diesen hier ansehe, dann darf man sich das in der Tat fragen.

    Darf ein Arbeitgeber wirklich erwarten, daß sich seine Arbeitnehmer nach aussen sichtbar laut und deutlich mit dem Unternehmen identifizieren und sich bis zur Selbstaufgabe zu „ihrem“ Unternehmen bekennen? Meiner Ansicht nach nicht. Er darf erwarten, daß sie sein Unternehmen nicht schlecht machen und Werbung für die unmittelbare Konkurrenz machen. Aber es ist eine Sache, den Arbeitgeber nicht schlecht zu machen und eine andere, aktiv für ihn zu werben. Noch dazu, wo wir in Zeiten leben, in denen es keine Arbeitsplatze von der Lehrstelle bis zur goldenen Uhr mehr gibt und einem die ARGE ggf. einfach den Geldhahn zudreht, wenn man den sittenwidrigen 1 € Job im zwielichten Call Center nicht angenommen hat, weil man dort zu illegalen Cold Call Anrufen genötigt wird.
    Mein Arbeitgeber (bzw. mein Kunde) kauft meine Zeit, meine Expertise und mein Wissen. Ich selbst bin nicht käuflich. Wenn ich meinen Freunden und Bekannten etwas empfehle, dann deshalb, weil ich voll und ganz dahinter stehe. Das kann sogar das Produkt meines Kunden sein (im Blog wird ggf. dann eine entsprechende Disclosure Notice vor meinem Eintrag stehen), aber ansonsten kann höchstens von mir erwartet werden, daß ich das Produkt ignoriere.

  13. creezy meint:

    Danke für das es so kurz und prägnant auf den Punkt bringen!

  14. maya meint:

    ★★★★★ (volle Punktzahl)

  15. Sebastian Dickhaut meint:

    Wenn man kiki und anie liest könnte man meinen, Social Media ist die neue Tupperparty. Ist das in solchen Konstellationen eher der Einzelfall oder eher die Regel, dass man gebeten wird, seine Leute zu bespammen?

    Wie klingt eigentlich „digitale Dilemmisten” bzw. „Dilemminas”?

  16. Kiki meint:

    @Sebastian Dickhaut: Ich hatte heute Mittag schon einen längeren Kommentar als Antwort auf Anie geschrieben, aber der ist leider beim Absenden gelöscht worden. :-(
    Kurzfassung: Es wird definitiv erwartet, wenn man in der Medien-/Werbebranche arbeitet.

  17. Elke meint:

    Sie sprechen mir aus der Seele – von der ersten bis zur letzten Silbe. Einziger Trost für mich: Ich bin nicht allein ;-)

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